Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287


Stettin den 25 Septbr. 1845

Verehrtester Freund

Für Ihre werthen Briefe vom 21 d. meinen herzlichsten Dank: Sie beweisen sich darin wieder als den Künstler und Menschen, den Deutschland mit Recht so hoch verehrt. Zugleich mit dem Briefe an Sie hatte ich an Lindblad geschrieben und ihm freundschaftlich aber derb den Kopf gewaschen, daß er überhaupt mit einem Anonymus, dessen kleine Seele so offenkundig dalag, auf ein Compromiß eingegangen wäre. Wie nun, wenn Sie – natürlich abgesehen von der hämischen Form des Tadels – in der Sache selber den Recensenten überall nach Gewissen hätten beipflichten müssen? Ich wenigstens wäre der Letzte gewesen, der Ihnen, selbst aus einer für meine individuelle Ansicht zu scharfen Kritik, einen Vorwurf gemacht hätte; denn meine ziemlich reiche Erfahrung hat mich hinlänglich belehrt, daß gleichzeitig lebende Künstler sich häufig nicht Gerechtigkeit wiederfahren lassen können, eben weil sie demselben Zeile auf verscheidenen Wegen nachstreben, jeder seinen Weg nach Pflicht und Gewissen gewält hat, ihn folglich für den besten hält und halten muß, sonst würde er ja nicht das Beste geben, was er vermag, und welcher Künstler vermöchte das von sich und von der Kunst zu entschuldigen? Deshalb haben mich Mißurtheile, wie die angeblich von Händel über Gluck, von Haydn über Beethoven gefällten, nie verleitet, die Urtheiler deshalb für neidisch zu achten. Einem Meister der Satzkunst wie Händel mußte der grandiose Naturalismus Glucks, sein demagogisches Geltendmachen der natürlichen Lyrik, gegenüber dem Formenkram der damaligen älteren Opern, gewiß grün(?) und vom Publicum überschätzt erscheinen. Es ist überhaupt ein Kriterium eines schöpferischen Genius, die gemeine Heerstraße (die auch ihrer Zeit unwegsam gewesen) zu verlassen: ob mit Beruf oder nicht, vermag die Mitzeit selten durchgreifend zu entscheiden. Ganz gewiß hat es Ihnen auf dem von Ihnen betrenen Wege auch nicht an Kritikern gefehlt, die Ihnen das als unerhörte und geschmacklose Neuerung vorgeworfen haben, was wir heute als eine geniale Eroberung und Bereicherung ansehen.
Um so erfreulicher ist es, vonn einem so productiven Künstler wie Sie, so schöne Grundsätze und Ansichten ausgesprochen zu sehen, wie sie Ihr Werther Brief enthält, dessen ich mich noch Ihrer gütigen Erlaubniß bedienen werde, um einem schmerzlich verwundeten Freunde nicht bloß Heilung sondern entschieden eine Freude zu bereiten, die weit größer ist als der erlittene Kummer.

Mit freundschaftlichster Hochachtung
Ihr ergebenster
C.A. Dohrn.

Autor(en): Dohrn, Carl August
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Lindblad, Adolf Fredrik
Erwähnte Kompositionen: Lindblad, Adolf Fredrik : Lieder, Sgst Kl
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845092545

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Dohrn, 21.09.1845.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.09.2020).