Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Herrn Hofkapellmeister Spohr
in Cassel

Hochverehrter Gönner und Freund

Verzeihen Sie, daß ich Sie mit einer Bitte belästige. Mein Freund, der Componist und Musiklehrer Lindblad in Stockholm (Mendelssohns Mitschüler bei Zelter) hat mehrere Hefte Lieder publicirt. Als mir die ersten Hefte zu Gesicht kamen, gefiel mir das Meiste darin so, daß ich sie mit deutschenm Texte bei Simrock auf meine Kosten (natürl. mit Genehmigung des Componisten) drucken ließ.1 Ich habe dafür von vielen Seiten, und recht achtbaren, Freude und Dank gehabt, da neben den meisten „Dutzencompositionen für den großen Haufen“ diese Lieder sich licht als Kinder eines eigenthümlichen, interessanten, wenn auch bisweilen wunderlichen Geistes herausstellen. Lindblad gehört zu den stilllebigen, verschlossenen aber fein sensitiven Charakteren, die gar zu leicht mit der äußeren Welt in Conflict gerathen. Ein solcher Conflict liegt jetzt eben vor.
Er schickt mir nehmlich vor Kurzem sein fünftes und sechstes Heft, und eine schwedische Recension2 vom letzten. Hier folge sie in Uebersetzung:

„Wiederum Lieder von H. L. und diesmal nicht weniger als – neunzehn! – Wäre der Verf. noch ein Jüngling, so könnten wir davon absehen, daß er seine Zeit mit solchen Miniaturen hinbringt, aber wenn man erwägt, daß er in mittlern Jahren ist, so müssen wir beklagen, daß seit 10 Jahren seine Producte, wenige Klaviersachen ausgenommen, sich auf das genre beschränken. Leider müssen wir hinzufügen daß diese 19 Lieder den frühern weit nachstehen. Unter H. L. frühern Lieder trifft man doch solche, die nicht nur eigen Erfindung, sondern auch einen so angenehmen Abstrich haben, daß sie mit Recht den Beifall des Piublicums gewannen. Aber wie ist es mit diesen 19? Zeigen sie etwas Neues in Melodie? Neue Combinationen in Harmonie? Irgend eine eigenthümliche Aufstellung in formvoller Hinsicht? Wir sind genöthigt, das zu erinnern.“
„Dies ist Musik, zusammengeflickt aus längst bekannten Elementen, voller Reminiscenzen; das sind nicht Inspirationen einer schaffenden genialen Phantasie, – doch wir lassen die Lieder selber sprechen.“
No. 13 und 24 sind mehr oder minder kenntlich an ihrer Geschwisterähnlichkeit mit andern Liedern (z.B. von Spohr, Proch, H. Lindblad selber, und andern). In No 1 (siehe die zweite Reihe Jag vill glömma, gömma [Ich will vergessen, verhehlen]5 findet sich eine erstaunliche Aehnlichkeit mit der schönen Romanze Asdur in Schloß Montenero von Dalayrac. In No 3 Ur Atterboms Minnesånger i Sverige6 [der Minnesänger in Schweden] müssen wir dem Comp. eine kleine Frage vorlegen: Ist es im ersten Takt, fünftes Achtel, ein Druckfehler? – Wir die Frage, wie zu vermuthen, verneint, so müßte ja nach bis dato geltenden Regeln dies as wie ein Orgelpunkt betrachtet werden: da derselbe seine Auflösung nur abwärts d.h. in g, aber nicht aufwärts in b finden kann, wie es das gedruckte Exemplar weiset, so müssen wir diese wunderliche Tonbrechung für ein Versehen achten – nicht wahr? Die nehmliche No hat noch eine harmonische Com ination, die wir unsers Theils eben so häßlich als regelwidrig finden, siehe den sechsten Takt vom Anfang, der mit b Moll schließt und den 7ten, der ganz der Quere mit B dur anfängt aber dazu ganz unpraeparirt im Baß Es als Orgelpunkt nimmt. Was sollen unsre jüngern Componisten sagen, wenn die älteren mich solchen, gelindest ausgedrückt, Absuditäten zum Vorschein kommen? Da müßte man glauben, die Regeln über Reinheit der Harmonie seien nur Fabeln. No 47 beginnt mit einer Figur, die einen Takt später im Baß canonisch imitirt wird: im 3ten Takt sucht der Componist dieselbe Figur in die Mittelstimme zu bringen, hat aber bedauerlicherweise übersehen, daß er die Baßfigur hätte einen Ton höher in die Mittelstimmen legen müssen8, wenn die Imitation unverstümmelt und vollständig bleiben sollte. Durch Beachtung[9} ähnlicher Bagatellen verstanden Mozart, Haydn und a. ihrerr kleinern und unbedeutenden Arbeiten so kunstmäßig und interessant zu machen. No 5. Föresats10 [Vorsatz]. Hier hat sich der Componist vorgesetzt, so originell zu werden, daß weder Künstler noch Liebhaber ihn begreifen können, wir gehen also stillschweigend über die No weg und beginnen wieder mit No 6 „1 Mai 1844.“11 Dies Lied scheint dazu12 bestimmt, eine Art Volkslied werden zu sollen, und ist dazu nicht unpassend, hinsichtlich seines Ernstes und seiner Einfachheit. Um so mehr mußte es uns verwundern, den letzten Accord vor dem Schluß darin zu finden, wo der Verfasser frei anschlägt g, f, h, und e. Wenn doch H. L. so gut wäre uns aufzuklären, zu welcher Art von Accorden diese verquetschte Tonzusammenstellung gehört, denn in den bisher erschienenen theoretischen Werken ist sich nicht angegeben. Wir können allenfalls ahnen, daß es des Verf. Absicht ist, durch die Note e in der Oberstimme nach der Schlußnote C überzuleiten; doch wenn er in der Hast die dazu erforderliche harmonische Continuation nicht finden konnte, so hätte er nur Cherubinis Wasserträger13 ansehen sollen, wo in der ersten Romanze (im 12ten Takt von G dur gerechnet) genau dieselbe Tonfolge vorkommt. Dadurch hätte der Verf. dem Recensenten die Unannehmlichkeit erspart, diesen Nonsens als solchen zu bezeichnen. No 7. Till Sophie14 [An S.] Obwohl aus lauter bekanntem Material zusammen gestoppelt, könnte doch das Lied durch etwas Umarbeitung ganz bücsch werden; denn will der Verf. dieser Arbeit etwas tiefer nachdenken, so wird er leicht finden, daß eine consequentere Durchfführung der Figur, welche mit der Singstimme geht, und deren Grundnote nachher in den15 Baß aufgenommen werden, nicht unbedeutend beitragen würde, die No. interessant zu machen. No 8 „En Dagakarls visa16 [eines Tagelöhners Lied] ist ein hübsches Lied, frei von nichtssagenden Brüchen und regelwidrigen Combinationen. No 9 Vaggvisa17 [Wiegenlied] ist auch ein ganz nettes Lied, obwohl es als Wiegenlied weder die Abrundung noch das unverkünstle behagliche hat, was wir bei dergleichen Liedern andrer Componisten finden. No 10 hat zum Titel „den Skeppsbrutne“18 [der Schiffbrüchige]. Nach kurzem Recitativ tritt der Hauptsatz in f dur ein. Die Worte lauten: „Och så bar det öfver glittrande vågor på glänsande fjärd pp [Und so ging es fort über schimmernde Wogen ins glänzende Meer pp]: später ändert sich der Ideengang im Gedicht, und es heißt: „Men himlen blef mulen och mörkt blef kring jorden. Sig molnen sänkte ner pp [doch der Himmel ward trübe und düster rings die Erde. Wolken senkten sich nieder pp]. Hier behält der Componist nicht bloß dieselbe Melodie, sondern auch dieselbe Stimmenführung wie im Hauptsatze und scheint zu glauben, alle dramatischen Ansprüche erfüllt zu haben, indem er die ersten 8 Takte in Moll spielen läßt. Das wäre doch wahrlich allzu bequem, wenn man, um wesentliche Contraste auszudrücken, sein Thema nur aus dur in moll zu transponiren brauchte! No 11 „Slottervisa“19 [Mäherlied] (ein Mäher singt, während er seine Sense schleift.) Allerdings sucht Rossini im Barbier von Sevilla, während Bartolo vom Figaro eingeseift wird, durch einige Violinfiguren auszudrücken, was auf dem Theater vorgeht, doch bleibt es eine bedenkliche Sache, die Tonkunst zu diesem Zweck zu verwenden; indeß20 mag das entschuldigt werden, wenn es mit dem Thater und der Action in Verbindung steht. Unmöglich können wir aber dergleichen Malereien billigen, wenn sie mit dem Klavier auszuführen sind, weshalb wir das Vorspiel zu diesem Liede aufs höchste mißbilligen, durch welches, nach des Verf. Meinung, in Tönen gemalt wird, wie der Mäher seine Sense schäft. Ein Paar Accorde wären uns als Einleitung weit lieber gewesen. Auch müssen wir gegen die Stimmführung im 18. Tact opponiren, wo der Gesang von fis nach g geht, während die Begleitung von d nach fis geht. Sind ähnliche Tonaufstellungen jemals wohlklingend? Nein. Warum also so schreiben? No 12. Den öfvergifna.21 [Die Verlassene]. Dies Lied, ohne irgend eigenthümliche Farbe, beginnt und schreitet vor in so reinem Styl, daß man unmöglich ahnen kann, was dem Zuhörer am Schluß bevorsteht. Im 8ten und 7 Takt vor dem Schluß nämlich fällt es dem Verf. plötzlich ein, eine Modulation zu machen, derengleichen nie gesehen noch gehört wurde. Er macht eine harmonische Ausweichung von Asdur nach Edur kl SeptimenAccord, von da nach H dur kl SeptimenAccord, worauf nach einer enharmonischen Verwechslung der QuartSextenAccord auf B folgt. Es wäre wirklich interessant zu erfahren, wo in aller Welt der Verf. gesehn hat, daß man von Edur Accord, dessen die kl Septime zugelegt wird und der Grundton e- ist, nach Hdur geht, es mag mit oder ohne kl Septime sein. Uns ist sattsam bekannt, daß man sich im freien Styl bisweilen erlaubt, von Edur kl Septimenaccord nach Hdur auszuweichen, wenn dier Grundton Gis, H oder D ist, folglich entweder durch den 5/6, 3/4/6 oder 2/4/6 Accord; aber das der Grundton e ist, sehen wir wahrlich keine Möglichkeit, nach Hdur mit dem Grundton H im Basse zu kommen. Der 3te und 4te Takt vorm Schlusse enthalten einen ganz hübschen Gedanken, nur muß die fünfte AChtelnote im 4ten Takte bb und nicht a heißen. No 13 Ny kärlek22 [Neue Liebe] und No 14 Flickan vid vattnet23 [das Mädchen am Wasser] sind gewöhnlich aber artige Lieder. Die übrigen Nummern 15-1924 sind kleine Bagatellen, jede von wenigen Tacten, und deshalb hoffentlich so anspruchslos, daß wir den Leser nicht mit einer nähern Besprechung derselben schweren wollen, nur wollen wir noch hinzufügen, daß, wäre der Verfasser dieses Liederheftes (wie wir schon oben bemerkten) noch in Jünglingsjahren,25 wir unsern Ton erheblich herabgestimmt hätten: Herr Lindblad ist aber so alt und als Tonkünstler so angesehen, daß wir ihn unmöglich mit dem Maßstab für Anfänger messen können. Es thut uns wahrlich leid, daß wir diese regelwidrigen Combinationen und harmonischen Verstöße anmerken mußten, die wohl jeder Componist, auch wenn er nicht eben ausgezeichneten Unterricht genossen, vermeiden könnte. Der Verleger hat offenbar die Qualität der Lieder in diesem Hefte richtig gewürdigt, da er sie auf ein Papier gedruckt hat, das fast so schlecht wie Löschpapier ist.“

Dieser durch und durch faule kritische Schmarrn wächst, was die Sache besonders häßlich macht, auf dem giftigen Boden des Neides. Die Stelle des ersten Musikdirectors in Stockholm wird wahrscheinlich nächstens vacant, da der zeitige Inhaber26 durch den Trunk dem Tode oder doch der totalen Dienstunfähigkeit nahe ist, und da Lindblad nicht nur dem Könige (als Musiklehrer der Prinzen) sondern auch dem schwedischen Publicum theils wegen seiner Verdienste um die Publication skandinavischer Volkskunst, theils wegen seiner vielverbreiteten Lieder lieb und werth ist, so will man ihm durch diesen gehässigen anonymen Angriff die Aussicht erschweren oder wo möglich ganz versperren. Und das Mittel scheint leider nicht ungeschickt gewäht. Diese prunkende Gleißnerei des Recensenten mit einigen technischen Floskeln, das Gefasel, wie der Canon noch besser geworden wäre(!!) und gar die stupende Gelehrsamkeit, die er über die Accordfolge in der öfvergifna auskramt, haben das schwedische Publicum dergestalt verblüfft, daß auf eine allgemeine Antikritik27 eines (wie ich fürchte schwach gesattelt gewesenen) Freundes von Lindblad, der Recensent sich vermessen hat, Sie, Herr Hofkapellmeister, würden alle seine als Donatschnitzer28 aufgeführten Rügen als solche bestätigen.29
Leider fehlt es mir für den Augenblick durchaus an Muße, die Lieder des 5ten und 6ten Heftes zu übersetzen: als Director einer bedeutenden Raffinerie und Praesident eines naturhistorischen Vereins komme ich manchmal wochenlang zu keiner Musik; aber vielleicht mache ich es im Laufe des Winters doch noch möglich, wenigstens die für deutsche Seelen ansprechendsten Lieder dieser Hefte zu übertragen: dann werde ich nicht unterlassen; Ihnen meinen Versuch zuzusenden. Einstweilen bin ich so frei, Ihnen die beiden von mir übersetzten Hefte zu überreichen, damit Sie daraus, wie ich fast gewiß hoffe, die Berechtigung Lindblads entnehmen, als schaffender Genius seinen eignen Weg zu gehen, ohne daß ein unwürdiger Kläffer dadurch berechtigt wird, seinen Giftpfeil hinter der Aegide Ihrer Autorität abzudrücken.
Im gütige Rücksendung des 6ten Heftes bittend, und Ihnen die erbetene Ehrenrettung des heimtückisch gemißhandelten Componisten ans Herz legend empfehle ich mich Ihrer Frau Gemahlin und bin mit der vollkommensten Hochachtung

Ihr ganz ergebster
C.A. Dohrn.

Stettin den 7 September
1845.



Spohr beantwortete diesen Brief am 21.09.1845.

[1] Adolf Fredrik Lindblad, Lieder mit Begleitung des Pianoforte, Bonn [1839]; vgl. Rez. O[swald] L[orenz], Rez. „Lieder nordischer Componisten“, in: Neue Zeitschrift für Musik 11 (1839), S.189f. , hier S. 189.

[2] Rez. „Sånger vid Forte-Piano af A.F. Lindblad. 6:te häftet hos J.C. Hedbom & Komp.“, in: Post- och Inrikes Tidningar 28.07.1845, S. [1]f.

[3] Da mir der in Rezension und Brief zitierte Erstdruck nicht zugänglich war, ziehe ich für die einzelnen Lieder das Digitalisat des Faksimuiles eines späteren Druck heran: Adolf Fredrik Lindblad, Sånger och visor III för röst och piano, Stockholm 2016, S. 6ff.

[4] Ebd., S. 9ff.

[5] Die Übersetzungen in eckigen Klammern stammen vom Briefautor und sind in diesem Fall keine Ergänzungen des Herausgebers.

[6] Ebd., S. 12f.

[7] Ebd., S. 14.

[8] „müssen“ über der Zeile eingefügt.

[9] „Beachtung“ über der Zeile eingefügt.

[10] Ebd., S. 15f.

[11] Ebd., S. 17.

[12] „dazu“ über der Zeile eingefügt.

[13] Les deux journées.

[14] Ebd., S. 18f.

[15] „den“ über der Zeile eingefügt.

[16] Ebd., S. 20f.

[17] Ebd., S. 22ff.

[18] Ebd., S. 25-29.

[19] Ebd., S. 30f.

[20] „indeß“ über gestrichenem „doch“ eingefügt.

[21] Ebd., S. 32f.

[22] Ebd., S. 34f.

[23] Ebd., S. 36ff.

[24] Ebd., S. 39-43.

[25] Hier gestrichen: „so würde“.

[26] Noch nicht ermittelt.

[27] „[(Insändt.)]“, in: Post- och Inrikes Tidningar 15.08.1845, S. [1].

[28] „Donatschnitzer m. zuss. mit donat m. grober sprachfehler“ („donatschnitzer“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung (1965–2018), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache).

[29] „[I gardagens Post- och Inrikes Tidningar]“, in: Post- och Inrikes Tidningar 16.08.1845, S. [3].

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.09.2020).