Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sehr verehrter Herr u Freund!

Indem ich Ihre Oper vorbereiten ließ zu welchem Zwecke das Stück vorlag und mit unsren besten disponiblen Mitteln besetzt u ausgetheilt wurde, um das noch im Monath May die Clavierproben beginnen u um Soli u Chor im July, nachdem die Sänger u Sängerinnen, welche im Monath Juny Urlaub haben, zurückgekehrt, die Vorstellung statt finden könne, hat sich folgende Hinderniß entgegengestellt. H. Mantius, der nun wohl allerdings nicht mehr im Besitz seiner ganzen frühern Kraft ist, wenn auich noch sehr bei Stimme, scheut große angreifende Stellen an sich, um so mehr, wenn sie sich dem Heldenfach nähert u Ausdauer, Größe u dergl. erfordern, wie Balduin. Dazu kommt noch daß er im Juny nach Ems geht, um seinen Hals wieder herzustellen u zu fördern.
Der Arzt will ihm demnach nicht erlauben im July gleich nach der Rückkehr aus dem Bad die angreifende Rolle des Balduin zu spielen. Dieß könne man nun in keinem Fall von ihm verlangen. Er schlägt nun vor, daß man den Balduin an H Pfister gebe, u daß er die kleinere Rolle des Bruno übernehmen wolle. Dieser ist nun allerdings kein so gediegener Sänger wie Mantius, indessen von sehr günstigem Aeussern u Größe, besitzt eine sonore, sehr angenehme u kräftige hohe Tenorstimme, hat wenig Coloratur, die jedoch hier nicht nöthig ist. Er hat Rollen als: Ottavio1, Tamino2, Elvino3, Sever4, Alomir5 u. A. mit Beifall gesungen. Was Mantius an Schule voraus hat, hat Pfister wieder an Aeußerem u zu dieser Rolle passend voraus. Ich glaube dazu rathen zu können, da mir doch auch an Gelingen des Stücks gelegen seyn muß, Kapellmeister Taubert theilt meine Meinung. Generalmusikdirektor Meyerbeer hat mir versprochen Ihnen heute auch in diesem6 Sinne zu schreiben; ob er es thun wird, weiß ich nicht, da er bekanntlich ein nicht fleißiger Correspondent ist. Ich konnte es jedenfalls nicht unterlassen da die Sache pressant ist, denn ich dieser Woche sollen schon die Proben (Clavier) beginnen. Ich bitte Sie nun, mir mit umgehender Post zu schreiben, ob Sie damit einverstanden, daß Pfister den Balduin u Mantius den Bruno geben? Danach kommt das Stück im July heraus; Mit Mantius (Balduin) in keinem Falle, ja Mantius wird überhaup7 an diese Rolle nur gezwungen u ungern sehen, was ich Ihnen redlich sagen muß.
Mit alter Hochachtung u Freundschaft

TKüstner
General-Intendant
d. Königl. Schauspiele



Der letzte erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Küstner, Ende März 1845.Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Küstner an Spohr, 04.07.1845.
Der Brief könnte um den 20.05.1845 entstanden sein: „Erst am 20t Mittags hörte ich zufällig bey der Gräfin Oriola, Schwester der Frau meines Bruders, daß Meyerbeer noch in Berlin war! […] Meyerbeer bedauerte allerdings, daß Mantius, der übrigens seinen guten Willen durch Erbittung der 2ten Tenor-Parthie documentirt habe, – für die Parthie des Balduin sich körperlich zu angegriffen gefühlt habe; versicherte aber, daß Pfister, den ich leider nicht hörte, wenigstens rein u richtig singe.“ (Christian Friedrich Lueder an Louis Spohr, 01.06.1845).

[1] Rolle in Don Giovanni von Wolfang Amadeus Mozart.

[2] Rolle in Die Zauberflöte von Wolfang Amadeus Mozart.

[3] Rolle in La sonnambula von Vincenzo Bellini.

[4] Rolle in Norma von Vincenzo Bellini.

[5] Rolle in Belisario von Gaetano Donizetti.

[6] Hier drei Buchstaben gestrichen.

[7] Sic!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.07.2020).