Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,190
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 278f. (teilweise)

Sr. Wohlgeb
Herrn Wilhelm Speyer
in
Frankfurt a/m

frei


Cassel den 1sten May
1845

Geliebter Freund,

Unser Briefwechsel ist recht lange unterbrochen gewesen; ich freue mich daher der Veranlassung, ihn wieder in Gang zu bringen. Es ist nämlich eine Fürbitte für den jungen Breunung, der sich um das Mozartstipendium bewirbt.1 Zwar zeigt der junge Mann für jetzt auch nur (wie Bott früher) Talent für eine ausgezeichnete Virtuosität; aber das Kompositionstalent kann sich, mit Ausnahme von sehr wenigen hochbegabten, überhaupt erst später entwickeln und eine ausgezeichnete Virtuosität ist doch auch schon ein Productionsvermögen. Bey Bott hat sich diese Ansicht wenigstens bestätigt, denn er fängt jetzt an, sehr beachtenswerthes zu schreiben. Hauptmann wird über die Fähigkeiten des jungen Breunung ausführlich berichtet haben[,] ich begnüge mich daher Sie auf ihn aufmerksam zu machen und Ihr Wohlwollen für ihn zu erbitten.
Obgleich meine Geschäfte sich von Jahr zu Jahr vermehren, besonders eine, oft recht lästige, Correspondenz nach allen Weltgegenden, so habe ich doch in den letzten Jahren wieder allerley Neues geschrieben und auch schon gleich nach der Oper2 wieder ein neues Violinconcert (das 15te) und ein 6tes Quintett für Streichinstrumente. Das Concert spielte ich im vorletzten unserer Abonnementsconcerte3, und das Quintett ist auch schon einige Male producirt. Auch habe ich das Klopstock’sche Vater-Unser für ein großes Orchester neu instrumentirt und in dieser Gestalt im letzteren Concerte aufgeführt.4 Es ist so von viel besserer Wirkung und viel leichter auszuführen. Sollten Sie es einmal wieder bey Ihner Liedertafel singen wollen, so steht die neue Instrumentirung sehr gern zu Diensten. Es wird in dieser neuen Gestalt bey einem großen Gesangfest in Halberstadt im Mai gegeben werden.
Die Oper werde ich nun bald (während der Ferienzeit) in Dresden und Berlin selbst in Scene setzen und die ersten Male dirigiren. Ich bin sehr gespannt, ob sie dort ebenso günstigen Erfolg haben wird wie hier. Es hat mir eine große Genugtuung gewährt[, da]ß mein Bestreben, den dramatischen Gesang zu der früheren Einfachheit und Wahrheit der Gluck’schen Periode zurückzuführen, hier soviel Anerkennung, selbst bey dem großen Haufen, gefunden hat und zu sehen, daß ein Publikum in Enthusiasmus gebracht werden kann ohne Coloraturen, ohne unsinnigen Lärm, selbst ohne süßliche, gleich nachzusingende Melodien. –
Leben Sie wohl und erfreuen Sie mich nun auch bald durch einige Zeilen.
Herzliche Grüße an die lieben Ihrigen.
Wie immer ganz der Ihrige Louis Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Speyer an Spohr, 18.05.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Speyer an Spohr, 16.03.1846.

[1] Vgl. Ulrike Kienzle, Neue Töne braucht das Land. Die Frankfurter Mozart-Stiftung im Wandel der Geschichte (1838-2013) (= Mäzene, Stifter Stadtkultur 10), Frankfurt am Main 2013, S. 89-93.

[2] Die Kreuzfahrer.

[3] Vgl. Otto Kraushaar, „Cassel, im Juni 1845”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 47 (1845), Sp. 505-509, hier Sp. 505

[4] Vgl. ebd., Sp. 506

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (12.03.2016).

Cassel, 1. Mai 1845.

Unser Briefwechsel ist recht lange unterbrochen gewesen, ich freue mich daher der Veranlassung, ihn wieder in Gang zu bringen. Es ist nämlich eine Fürbitte für den jungen Breunung, der sich um das Mozartstipendium bewirbt ...
Obgleich meine Geschäfte sich von Jahr zu Jahr vermehren, besonders eine oft recht lästige Korrespondenz nach allen Weltgegenden, so habe ich doch in den letzten Jahren wieder allerlei Neues geschrieben, und zwar schon gleich nach der Oper wieder ein neues Violinkonzert (das dreizehnte) und ein sechstes Quintett für Streichinstrumente. Das Konzert spielte ich im vorletzten unserer Abonnementkonzerte, und das Quintett ist auch schon einige Male produziert worden. Auch habe ich das Klopstocksche ,Vaterunser’ für ein großes Orchester neu instrumentiert und in dieser Gestalt im letzteren Konzerte aufgeführt. Die Oper werde ich nun bald in Dresden und Berlin selbst in Szene setzen und die meisten Male dirigieren. Ich bin sehr gespannt, ob sie dort ebenso günstigen Erfolg haben wird wie hier. Es hat mir eine große Genugtuung gewährt, daß mein Bestreben, den dramatischen Gesang zu der früheren Einfachheit und Wahrheit der Gluckschen Periode zurückzuführen, hier soviel Anerkennung, selbst bei dem großen Haufen, gefunden hat, und zu sehen, daß ein Publikum in Enthusiasmus gebracht werden kann ohne Koloraturen, ohne übermäßigen Lärm, selbst ohne süßliche gleich nachzusingende Melodien ...