Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Wohlgeborner,
Hochgeehrtester Herr Kapellmeister!

Wenn ich abermals wage, mich Ew. Wohlgeboren mit einer Fürbitte zu nahen, so müßte ich es kaum anders zu rechtfertigen, als durch den Glauben an Ihre allgemein bekannte Menschenfreundlichkeit u. Bereitwilligkeit, insbesondere auch Künstlern fortzuhelfen, so wie vor mir selbst durch die Theilnahme, die das Herz am Schicksale des Freundes gebietet. Es betrifft Herrn Kühmstedt in Eisenach. Ich erhalte so eben einen Brief von ihm, welcher seine Lage, als immer trauriger werden schildert: „das Thermometer meines physischen und geistigen Seins ist tief unter Null gesunken, wie kann ich in der Kunst noch reussiren?“ schreibt er; erzählt – von häuslichen Unfällen zu schweigen – daß vorzugsweise seine amtliche Stellung unerträglich geworden sei. Er hat der Vorgesetzten viele als Gymnasial1- u. Seminarlehrer2, als Chor- u. Kirchenmusikdirektor3 je andere, und bezieht seinen Gehalt ebenfalls von verschiedenen, oft unseren Seiten her. Im Oberkonsistorium bekämpfen sich gegenseitig zwei Partheien nach den alten Prinzipien der Conservativen u. Progressiven. K. scheint es namentlich mit dem Vorsitzenden4 verdorben zu haben, welcher ihm, nachdem er schon 5-6 Jahre hindurch seine Stelle begleitete, eine neue eigenmächtig entworfene Instruktion gab, und ihn zur Annahme zwingen wollte; ferner einen für K. günstigen Beschluß des Kollegiums unterschlug und abänderte, sowie die, an sich schon karge Besoldung, ihm noch mehr schmälerte und – wie es denn gewöhnlich geht – ihn bei jeder Gelegenheit sein Uebelwollen fühlen läßt. - Jetzt hat K. diese Sachen vor dem Ministerium zur Klage gebracht und hofft um so sicherer Abhülfe, als die Majorität des Kolegiums für ihn ist; allein alle Freudigkeit und Lebenslust, aller Muth ist ihm so tief gesunken, daß er schreibt: „wenns nicht mehr geht, so ist man ja nicht ans Leben gebunden.“ - Wie Vielen waren Sie schon ein freundlicher Rather, und wie groß ist die Zahl derer, welche druch Ihre Empfehlungen ihr Fortkommen und eine bessere Zukunft erhielten! Wie würden den armen Kühmstedt einige tröstende Worte von Ihnen – dem hohen Meister, den er so sehr verehrt – aufrichten und ermuthigen! Oder wüßten Sie vielleicht gegenwärtig einen Platz für ihn, - es ist am Ende gleichgültig wo? wenn er nur weg käme – so bin ich überzeugt, Sie würden ihm zum rettenden Engel werden. Nach Allem, was ich genauer von diesen Verhältnissen kenne, muß ich glauben, daß K. wirklich bald zu Grund ge[he.] Sein Vermögen hat er überdies zugesetzt[. Daß durch] Progressionen Schulden anwachsen können, davon hat die tägliche Erfahrung ja viel traurige Beispiele aufzuweisen. Möchten Ew. Wohlgeboren diese Zeilen gütigst als einen Dienst der heil5 Freundschaft ansehen und die Freiheit dessen entschuldigen, der verharret als

Ew. Wohlgeboren
gehorsamer Diener, Emil Drescher.

Marburg, d. 27. März,
1845.

Autor(en): Drescher, Emil
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Kühmstedt, Friedrich
Nebe, Johann August
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Eisenach
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845032749

Spohr



Spohr beantwortete diesen Brief am 31.03.1845.

[1] Vgl. Staats-Handbuch für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach (1843), S. 100; dass. (1846), S. 111 und 288.

[2] Vgl. Staats-Handbuch (1843), S. 101; (1846), S. 112.

[3] Vgl. Staats-Handbuch (1843), S. 264; (1846), S. 286.

[4] Vermutlich eher der in Eisenach tätige Oberkonsistorial-Vizepräsident Johann August Nebe (vgl. Staats-Handbuch (1843), S. 76; (1846), S. 86) als der am Hof in Weimar ansässige Oberkonsistorial-Präsident Heinrich Carl Friedrich Peucer (vgl. Staats-Handbuch (1843), S. 75; (1846), S. 85).

[5] Offensichtlich Abk. f. „heiligen“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (09.04.2020).