Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 14ten Februar 1845.

Wenn gleich, mein innigst verehrtester Gönner! am 10t Morgens 3 Uhr, da mein Bedienter beym Wecken mir abermahlige 17 Grad Kälte ankündigte, meine Ueberzeugung war, daß das dortige interessante Concert des 12t in das Reich der physischen Unmöglichkeit versinken werde: so fuhr ich doch um 5 Uhr, zur Reise völlig gerüstet, nach Nordheim; nunmehr mit völliger Gewißheit diesen Hochgenuß nicht etwa hinterm warmen Ofen zu versitzen! – Als die Frage, ob die Casseler Reitpost mir einen Brief poste-restante mitgebracht habe, nach statt gehabter Durchsicht mit „Nein! beantwortet wurde, 1 erschien die Sache wahrlich etwas epineus2! – da ich das Concert im Theater für völlig unmöglich erachten mußte, u ich doch dessen etwaige ausnahmliche Versetzung in den Saal des Stadt-Haus pp um keinen Preis hätte versäumen mögen! – Der Hannoversche Postwagen kam nach wenigen Minuten an, und ich war eben im Begriffe auf gutes Glück einzusteigen, als glücklicher Weise der Briefträger „Halt!“ rief, – der meinen Verlegenheits-Früh-Zwiesprach mit den Herren Post-Secretairen mit angehört hatte, und eben noch zu rechter Zeit sich besann, daß er einen Brief mit „Poste-restante“ bezeichnet irgendwo gesehen habe;! worauf denn bey anderweiter Durchsicht auch das Nordheimer Faches Ihr liebes Schreiben vom 10t bey aller meiner Kurzsichtigkeit doch in der Facon(???) schon von mir zu Beseitigung aller weiteren Zweyfel erkannt wurde! – Man hatte beym Ausheben gelaubt, es sey für meinen in Northeim wohnenden Vetter3 bestimmt, u daher war es in das Northeimer Fach gelangt, während die Herren bey meiner Nachfrage im Catlenburger Fache suchten! – Auf diese Weise durch Ihre unendlich gütige Vorsorge vor meiner so kalten vergeblichen Fahrt, mit Sicherheit gegen etwaiges Versäumnis eines so verdoppelt interessanten Concertes, geschützt zu bleiben, verdanke ich Ihnen allerdings innigst herzlichst! – Denn auch bey der wärmsten Kleidung wurde die Kälte im Wagen in Länge der Zeit doch sehr empfindlich! –
Daß Sie gleich dem Zulauf auf 14tägigen Verschub nehmen mußten, ist insofern vielleicht recht glücklich, als schwerlich schon zum 19ten eine mildere Temperatur zu erhoffen seyn mögte; wenn gleich wir in diesem Augenblicke, Abends 8 Uhr, bey neuem Schneefall auf dunklem Himmel nur 4 Grad Kälte haben. – Und dieses Temperatur-lucidum-Intervallum4 will ich denn auch sofort benutzen, Ihnen mit dem herzlichsten Grüßen meiner Frau5 ein Paar frische Würstel zu senden, die eigentlich bestimmt waren,, mir schon Gestern nach Cassel nachgesandt zu werden. – Mögen solche Ihnen und Ihrer theuren Frau Gemahlin, dich nach Ihrer neulichen Erwähnung zu unserer großen Freude auch anfängt dieses Braunschweig-Hannoversche Fabrikat zu appercipiren, recht wohlschmecken! – Die Leberwurst könnte dieses Mahl etwas fetter und dadurch weniger dunkler Farbe seyn; schmeckt aber doch besser als sie aussieht! –
Auch die Oper wird am 16t Abends unmöglich haben durchgeführt werden können! –
Mögte doch zu arrangiren stehen, daß in der Concert Woche Dienstags oder Donnerstags Ihre „Kreuzfahrer“ noch ein Mahl gegeben würden! – Einen wahren Heißhunger empfinde ich, dieses unendlich ergreifende Prachtwerk so durchaus eigenthümlichen Reizes so bald als möglich noch ein Mahl zu hören! – Ists in der Concert-Woche unthunlich: so paßte es vielleicht für den 2ten Oster-Tag! – wo ja doch immer gern etwas großartiges gewählt wird! – Mit großer Freude u Interesse ersehe ich aus den kleinen Hamburger Blättern6, die ich nun wieder erhalte, daß die Oper dort auch schon ein 3tes Mahl mit immer gleich stürmischem Beyfalle des überfüllten Hauses gegeben wurde, u auch viel Goettinger dadurch herbeygezogen waren. – Auch mein Bruder7 hatte die Absicht, Sie um einen geneigten Avis zu bitten, wann die Oper wieder gegeben werde. Er wird aber durch seinen leider noch immer nicht ganz beseitigten Kränklichkeit wohl8 darum behindert seyn. Schon das Buch der Oper, welches ich meiner Schwägerinn9, mit hineingehefteter Scenerie-Beschreibung u Handlung, mitgetheilt hatte, machte unter den Damen die größte Sensation, als ein sehr gelungenes Werk Ihrer so genialen theuren Frau Gemahlin! –
Gebe der Himmel nun nur, daß die jetzt liegenden(???) sehr bedeutenden Schnee-Massen nicht gerade in der Concert-Woche in Wasser sich verwandeln! – Der Kampf mit den tobenden Flüssen und darin treibenden Eismassen vor und hinter Münden und wiederum vor Cassel steht mir von r. t.(???) hier denn doch noch in etwas schauerlichem Andenken!! –
Mit innigster Anhänglichkeit

Ihr
so warmer als dankbarer
Verehrer
CFLueder.

G.N.S. Dürfen wir vielleicht gehorsamst bitten, Ihrer innigst verehrtesten Frau Tochter10 von den Würsten etwas abzugeben? – Für Frau v. Malsburg war noch ein Schachtelchen zur Hand; – ich proponire für Ihre Frau Tochter eine Roth- eine Leber- u 2 der Weiswürste gewöhnlichen Façons; indem die eben auf liegende etwas Umfang-reichere für Sie Selbst ausgesucht ist –

Autor(en): Lueder, Christian Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Lueder, Carl Wilhelm
Lueder, Franz Friedrich
Lueder, Luise Sophie Charlotte
Lueder, Wilhelmine Henriette Caroline
Malsburg, Caroline von der
Wolff, Ida
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die Kreuzfahrer
Erwähnte Orte: Northeim
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845021435

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 10.02.1845. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 16.03.1845.

[1] Hier ein oder zwei Buchstaben gestrichen.

[2] „epineux, fr (spr. -nös) stachlich, dornig; mißlich, schwierig“(Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 175).

[3] Franz Friedrich Lueder.

[4] Vgl. „Sodann kommt bei periodischen Geistesstörungen nicht selten ein freier Zwischenraum (lucidum intervallum) vor, wo nach heftigen Ausbrüchen der Krnkheit anscheinend ein freier Gebrauch der Vernunft und Willenskraft eintritt“ (Carl Ernst Bock, Das Buch vom gesunden und kranken Menschen, 11. Aufl., Leipzig 1876, S. 780).

{5 Wilhelmine Henriette Caroline Lueder.

[6] Vermutlich in Blätter für Musik und Literatur; noch nicht ermittelt.

[7] Carl Wilhelm Lueder.

[8] „wohl“ über der Zeile eingefügt.

[9] Luise Sophie Charlotte Lueder.

[10] Ida Wolff.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.05.2021).