Autograf: letzter Nachweis September 1927 in: New York Philharmonic Archives (US-NYphil) (vgl. [Katalog der Nathan Franke Collection], Nr. 44)
Abschrift: Richard-Wagner-Gedenkstätte Bayreuth (D-BHna), Sign. Hs 229-42
Druck: „Briefe an Richard Wagner”, in: Bayreuther Blätter 28 (1905), S. 275-286, hier S. 276f.

Cassel den 11ten Februar
1845.
 
Hochgeehrter Herr,
 
Ihre freundliche Zuschrift hat mich auf das Angenehmste überrascht und erfreut. Je weniger ich, vielleicht doch nur in in Folge einer grämlichen Ansicht des Alters, bey den jungen Künstlern der jezigen Zeit den Enthusiasmus für Kunst, der alles neben sich vergisst, bemerke, der mich in meiner Jugend so glücklich machte und viele Entbehrungen vergessen liess, je mehr erfreut es mich in Ihnen wieder einen Gleichgesinnten kennen zu lernen. Ich ersehne daher den Zeitpunkt mit Ungeduld herbey, wo ich Ihre persönliche Bekanntschaft machen werde und freue mich im Voraus darauf, dann recht viel über Gegenstände der Kunst mit Ihnen plaudern zu können. Ich theile ganz Ihre Ansichten über das verfehlte Bestreben der jetzigen deutschen Opernkomponisten, fürchte aber, Sie erwarten zu viel von dem, was ich im Gegensatz dazu habe leisten können. Denn mir ist wohl bewusst, dass bey dieser Kunstgattung Erfahrung und Wissen weniger wie bey jeder andern, eine jugendliche Phantasie ersetzen können. Ich hatte es deshalb auch schon längst aufgegeben noch eine Oper zu schreiben und es bedurfte wiederholter Anregungen meiner musikalischen Freunde, nach 15jähriger Pause wieder eine solche Arbeit vorzunehmen. Einmal begonnen, hat sie mich dann aber unendlich gefesselt und mir viele frohe Stunden bereitet. Mein ganzes Bestreben ging dahin, den Opernstyl zu der Einfachheit zurückzuführen, ohne jedoch auf den Reichthum der Harmonie und die effektvolle Instrumentierung der Mozart'schen und späteren Zeit zu verzichten. Bey diesem Bestreben musste das Werk nicht nur im Styl und der Form von der neueren Opernmusik, sondern auch von meinen eigenen Arbeiten der Gattung sehr abweichen und ich war daher sehr gespannt, wie es vom Publiko aufgenommen werden würde.Nie hatte ich aber erwartet, dass es so allgemeine Theilnahme finden werde und ich läugne nicht, dass mir dieses eine große Freude gewährte. Denn wenn ich auch gern zugebe, daß dieser Erfolg zum grossen Theile der anziehenden Handlung zugeschrieben werden muss, so ist er mir doch auch ein Beweis, dass es mir gelungen ist, meine Musik dieser so innig und wahr anzupassen, dass beydes, Handlung und Musik nur ein Ganzes macht. Eine zweite Freude hatte ich, zu bemerken, dass die Sänger Ihre Parthien, die weder Coloraturen noch sonstigen Apparat zum Brilliren enthielten, demohngeachtet mit jeder Probe lieber gewannen und demzufolge mit grossem Eifer studirten, so wie, dass ich mich in der Erwartung nicht getäuscht hatte, dass ein Gesang, der die Gefühle des Handelnden treu wiedergiebt, auf das Publikum grösseren Eindruck machen muss, als die gewöhnlichen Paradesätze der Sänger in den neueren Opern; denn die Sänger wurden nicht nur während der Vorstellung lebhaft beklatscht, sondern auch fast sämtlich am Ende herausgerufen. Die Oper war hier aber mit grosser Genauigkeit eingeübt und ich hatte mich besonders bemüht, die Sänger von der Taktlosigkeit und der Willkühr in der Eintheilung zu entwöhnen, wozu sie das Singen der italianischen Opern verführt und es war mir dieses ziemlich gelungen. Da dieses nur in den Zimmerproben geschehen kann, so wird der Herr Kapellmeister, der das Einüben meiner Oper in Dresden übernimmt, mir und meinem Werke eine grosse Wohlthat erzeigen können, wenn er in dieser Beziehung recht streng ist. Besonders müssen die häufigen Rezitative a Tempo auch wirklich im strengsten Takt gesungen werden. Doch nun endlich genug von meiner Oper und noch einige Worte von der Ihrigen. Der Klavierauszug hat ihr, da man sie daraus nun recht genau kennen lernt, wieder viele neue Freunde gewonnen und sie gewinnt sich bey jeder neuen Vorstellung ein immer grösseres Publikum. Auch ich liebe sie sehr und besonders den 2ten Akt, der vom Anfang bis zum Ende von grosser dramatischer Wirkung ist. Diesem hörte man's recht an, dass er in wahrer Begeisterung und ohne alle Gedanken eines Gefallenwollen geschrieben ist. Ich bin nun sehr begierig von Ihren neuen Arbeiten etwas kennen zu lernen. Hoffentlich findet sich dazu im Juli Gelegenheit. Indem ich Ihnen bis dahin wohl zu leben wünsche, mit wahrer
Hochachtung ganz
 
der Ihrige
Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Wagner, Richard
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die Kreuzfahrer
Wagner, Richard : Der fliegende Holländer
Erwähnte Orte: Dresden
Kassel
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Dresden>
Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845021113

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Wagner an Spohr, 04.02.1845. Aus Wagners Antwortbrief vom 04.03.1845 folgt, dass dieser Brief noch eine Nachschrift enthielt, die sowohl im Druck als auch in der Abschrift fehlt. Demnach erkundigt sich Spohr nach den sängerischen Leistungen von Wagners Nichte Johanna, die zu dieser Zeit in Dresden engagiert war und die Spohr vermultich für ein Engagement in Kassel in Betracht zog.
Denkbar wäre auch, dass Spohr erst durch Joseph Tichatschek an Spohr, 14.01.1845 auf Johanna Wagner aufmerksam gemacht wurde. Dann bezöge sich Wagners Hinweis auf eine Nachschrift in einem zwischen diesem und Wagners nächstem Brief verfassten, derzeit verschollenen Brief von Spohr an Wagner. In diesem Fall hätte Spohr die Frage aber vermutlich nicht in eine Nachschrift verbannt, sondern er hätte – so kurz nach diesem Brief – die Frage nach Johanna Wagner zum Hauptthema gemacht. Außerdem hätte sich Wagner im Fall eines späteren Briefs wohl auch nicht für seine verspätete Antwort entschuldigt.
Erich Kloss datiert diesen Brief auf den 02.02.1845 („Briefe an Richard Wagner”, in: Musikalisches Wochenblatt 37 (1908), S. 397ff., hier S. 398).
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.08.2017).