Autograf: letzter Nachweis siehe Druck 2
Abschrift: um 1904 im Besitz von Werner Wittich in Kassel (vgl. Druck 1)
Druck 1: Eugen Schmitz, „Spohr und Wagner”, in: Neue Zeitschrift für Musik 100 (1904), S. 715ff. und 735ff., hier S. 716f.
Druck 2: Autographen. [...] Versteigerung zu Leipzig bei C. G. Boerner den 19. und 20. Februar 1907 (= Katalog Boerner 87), Leipzig 1907, S. 84 (teilweise)
Druck 3: Richard Wagners Gesammelte Briefe, hrsg. v. Julius Kapp und Emerich Kastner, Bd. 2, Leipzig 1914, S. 143f.
Druck 4: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1980, S. 417ff.

Hochverehrtester Meister!

Diesmal bin ich denn durch die Nachlässigkeit, mit der ich Ihnen von Tag zu Tag zu schreiben verschob, um einen Triumph gebracht worden! Sobald ich von dem Erscheinen Ihres neuen dramatischen Werkes1 gehört hatte, nahm ich mir vor bei Ihnen nachzufragen, welcher Zeitpunkt Ihnen für die Aufführung desselben in Dresden, und zwar in Ihrer Gegenwart, der geeignetste sein würde, um sogleich mit unserem Generaldirektor das Nötige zu verhandeln und festsetzen zu können, für eine an Sie zu erlassende Einladung. Dem kamen Sie nun selbst durch Ihre Anerbietung an Herrn Lüttichau2 zu vor und wir hatten nun zu unserer Beschämung nichts weiter mehr zu tun als Ihr Anerbiethen dankbar anzunehmen.
Es ist mir dies unserer Ehre wegen etwas peinlich, - indess bleibt der Erfolg doch immer derselbe, wir werden Ihr neues Werk und Sie selbst bald hier begrüssen: Dies genügt um mich ganz persönlich in der freudigsten Erwartung zu erhalten.
Es konnte sich für unser gegenwärtiges deutsches Opern-Wesen nicht wichtigeres ereignen, als einen Meister wie Sie wieder darin auftreten zu sehen. Weiss Gott, ich bin der traurigen Ueberzeugung, dass unsre Opern-Komponisten jüngerer Zeit von gänzlicher Unbedeutung für die Wiedererschaffung einer deutschen Oper sind, denn mit Trauer habe ich an allen neueren Erscheinungen wahrnehmen müssen, dass die Leute, von denen ich spreche, durchaus nichts weiter im Kopfe haben, als – um jeden Preis zu gefallen. Sie zweifeln und verzweifeln an deutscher Eigenthümlichkeit, glauben kosmopolitisch verfahren zu müssen. Auber‘sche Pikanterie mit Donizetti‘scher Gesangs-Emphase verbinden und dazu als Medium etwas deutsche Gründlichkeit hinzuthun zu dürfen, um sicher zu sein, etwas allgemein wirksames zu produziren. An dieser widerlichen Asichtlichkeit für den äusseren Erfolg leidet in meinen Augen fast Alles, dem neueren deutschen Opern-Wesen Angehörende; der unbedingte Glaube an die Unbesiegbarkeit des Echten u. Wahren fehlt den Leuten, u. wo soll ohne diesen Glauben Begeisterung entstehen? u. wie soll ohne Begeisterung ein Kunstwerk geschaffen werden? - Und auffallend genug sehen sich die Leute immer geschlagen! ihre Werke, die Ihr Dasein nur dem Bestreben, es allen Leuten rech zu machen, verdanken, machen es am Ende keinem recht; für Auber ist die Sache zu wenig pikant, für Donizetti zu wenig emphasisch, und für uns alles leicht zu trivial. Wir haben hier in Dresden allseitig diese Erfahrung an dem jüngsten Werke eines namhaften deutschen Opern-Komponisten gemacht.3
Also – gesegnet sei der Himmel der es Ihnen eingab, uns wieder etwas Neues zu geben! Wir begrüssen es mit Freude und festem Vertrauen.
Im Juli sind Sie also hier erwartet, gewiß von Niemand mit größerem Verlangen als von mir, der Sie so innig verehrt, der Ihnen soviel verdankt, und der Sie einmal nur aus der Ferne gesehen hat, im Sommer 1842, auf der Dresdener Bühne4, zu einer Zeit, wo ich mit meiner großen Unbekanntheit und Unbedeutendheit es für besser hielt, Sie mit meiner Annäherung nicht zu belästigen. Jetzt werde ich Sie mit der freudigsten Zuversicht begrüßen können, da Sie mir mehr als einen Beweis gegeben haben, daß Sie mir freundlich gesinnt sind.
In größter Verehrung und Ergebenheit

der Ihrige
Richard Wagner.

Dresden, 4ten Febr. 1845.

Autor(en): Wagner, Richard
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Auber, Daniel-François-Esprit
Donizetti, Gaetano
Lüttichau, August von
Erwähnte Kompositionen: Marschner, Heinrich : Kaiser Adolph von Nassau
Spohr, Louis : Die Kreuzfahrer
Erwähnte Orte: Dresden
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Dresden>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845020443

Spohr



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Wagner an Spohr, 04.09.1843. Spohr beantwortete diesen Brief am 11.02.1845.

[1] Die Kreuzfahrer.

[2] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[3] Kaiser Adolph von Nassau von Heinrich Marschner (vgl. Julius B., „Kaiser Adolph von Nassau […] im Hoftheater zu Dresden am 5. Januar 1845 zum ersten Male aufgeführt“, in: Neue Zeitschrift für Musik 22 (1845), S. 25).

[4] Spohr besuchte eine Aufführung von Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti (Marinanne Spohr, Tagebucheintrag 22.07.1842).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.08.2017).