Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Wichmann,H.:1

Hochgeehrter Herr Capellmeister,

Im Namen meines Vaters, des Professor Wichmann zu Berlin, der vor zwei Jahren als er durch Cassel reiste das Glück hatte Sie mit mir zu besuchen, wage ich eine Anfrage die Ihnen hochverehrter Herr, vielleicht unbescheiden erscheint, die ich jedoch aus Liebe zur Kunst nicht unterlassen will. Nachdem ich nämlich den musikalischen Unterricht bei der Knl.1 Academie 3 Jahre lang beigewohnt habe arbeitete ich im Winter 1843 u. 1844. bei Mendelssohn; und als jener im Frühjahr fortreiste beim Capellmeister Taubert.2 – Ersterer kam im Monat Octob. von seinen Reisen aus England nach Berlin zurück und als ich zum letztenmale ihm eine Arbeit zeigte, sagte er mir, ich solle Berlin verlassen und dies sobald als möglich. Nachdem meine Eltern mit mir über meinen zukünftigen Lebenslauf überlegt hatten, wage ich nun die Anfrage, ob es Ihnen möglich wäre, mir vielleicht alle 14 Tage oder 3 Wochen oder wenn Sie befehlen das Urtheil über meine Arbeiten zu geben. –
Wie unbeschreiblich glücklich Sie mich durch eine bejahende Antwort machen würden kann ich in Worten garnicht schildern.
Am ersten Aprill würde ich in Cassel sein und bis zum Winter mich dort aufhalten. –
Noch einmal bitte ich hochverehrter Herr Capellmeister mir eine bejahende Antwort zu geben.
Mit der höchsten Achtung

Ihr Wichmann
per adresse
Professor Wichmann zu Berlin
Hasenhegerstraße No 1 u. 2.

Berlin den 24t Januar.
1845.

Autor(en): Wichmann, Hermann
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Taubert, Wilhelm
Wichmann, Hermann
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Singakademie <Berlin>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845012440

Spohr



Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Wohl Abk. f. „königlichen“.

[2] „Die Anfangsgründe der Theorie lehrte mich der alte Director der Singacademie, Rungenhagen, der es noch im Jenseits verantworten mag, mich zum Musiker gestempelt zu haben. Sein Zureden veranlasste die Eltern, die nicht viel von Musik verstanden, in mir den Glauben zu erwecken, dass ich vielleicht einmal in meinen zukünftigen Werken mit Mozart oder Beethoven concurriren zu können. Ich höre noch die gute Mutter sprechen: ,Wenn er wie Curschmann (damals ein sehr anerkannter Liedercomponist) oder auch wie Mendelssohn würde, das würde, das könnte mir nicht genügen; ich hoffe, er soll ein großer Mann werden, wie Gluck.‘ Es gluckt sich aber nicht so leicht.“ Hermann Wichmann, Frohes und Ernstes aus meinem Leben, Leipzig 1898, S. 124).
Merkwürdigerweise erwähnt erwähnt Wichmann im Haupttext seiner Memoiren die in diesem Brief erwähnten Unterweisung bei Mendelssohn und Taubert nicht, dafür aber etwas später seinen Violinunterricht beim Spohr-Schüler Ferdinand Ries (ebd., S. 126). In der im Anhang abgedruckten „Wichmann’s Autobiographie“ erwähnt er den Unterricht bei Mendelssohn und Taubert (ebd., S. 225-232, hier S. 227; dass. in ital. Übers. S. 233-240, hier S. 235).
Vgl. auch das Empfehlungsschreiben Giacomo Meyerbeer an Spohr, 26.03.1845.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.04.2020).