Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg den 20t Januar 1845

Unendliche Freude, mein innigst verehrtester Gönner! bringt mir wieder Ihr liebes Schreiben vom 18ten! – So überzeugt ich auch war, daß Ihr neuestes Meisterwerk höchsten Schwunges und Ranges auch bey der zweyten Aufführung denselben Beyfalls-Sturm und Jubel wiederum hervorrufen werde: so bringt uns dessen Bestätigung doch die innigste Freude! – Vor Allem aber erfreut u interessirt mich die Gewißheit, daß diese Oper1 nun auch in Dresden unter Ihrer eigenen Leitung in Scene gesetzt werden wird! – u ich bin im voraus fest entschlossen, auch die dasige erste Aufführung unter Benutzung der Eisenbahn mit zu genießen, wenn meine Geschäfte es nur irgend gestatten wollen; die gerade in der Jahreszeit durch die Wollschur u die derselben folgenden Vließ-Critisirung, wie auch die Wahrnehmung des Verkaufes der Wolle leicht also an ‘s Haus binden können, daß ich nicht selbst das Musikfest in Nordhausen, wie auch das in Halberstadt pp versäumen müsste! – Beyständig für die Realisirung solches sehnlichen Wunsches wird mir seyn, wenn ich zeitig vorher die dafür bestimmte Woche übersehen, u namentlich, ob Sie die dafür bestimmte Woche übersehn, u namentlich, ob Sie den Anfang oder das Ende der Ferien dafür wählen werden. – Wäre das letztere der Fall: so würde ich fast zweyfellos diesen hohen Genuß mir gewähren dürfen! – zu Mahl wenn der Zulauf gleich vom Frühjahr an dazu genommen werden kann.
Und sollte nicht auch die Braunschweiger Bühne sich bis dahin dafür rühren? – wo Sie ja in Folge der Eisenbahn nach Dresden hin u zurück unfehlbar passiren! – Wie auch Berlin doch von der Gelegenheit profitiren sollte, Sie in jenem glücklichen Eisenbahn-Regime ein Mahl en chémin zu wissen!! –
Carl Müller vermuthete, daß Meyer-Behr‘s „Feldlager in Schlesien“ zu Sommer-Messe in Braunschweig das die Bühne kommten werde, indem Meyer-Behr die Partitur dem Herzog geschenkt habe. Müller erzählte, daß bey der ersten Aufführung, zu der auch er auf des Componisten Einladung hinüber war, (u zu welcher er das ihm verschaffte Sperrsitz-Billett zu 3 Friedrd‘or hätte verkaufen können) – außer dem genialischen Orchester von mehr als 100 Personen auch noch die Musik-Chöre von drey Infantrie-Regimentern mit gewirkt haben. Wie die Oper an sich ihn befriedigt darüber sprach er sich nicht deutlich u bestimmt aus; – rühmte aber die geschmackvolle Pracht des nun ausgebauten Hauses außerordentlich.2
In Ihrem nächsten Concerte ziehen Anfang u Schluß mich zwar in hohem Grade an! – zu Mahl nun Bott an der Spitze des Solo-Orchesters als guter Genius steht; – was ich ja schon früher immer wünschte! – Da ich mir aber doch gern sicher mögte, zu Ihrem Vortrage des neuen Violin-Concertes wieder eine Wallfahrt zu Ihrem rumgetränkten Parnasse vollbringen zu dürfen: so will ich dieses Mahl lieber entsagen; da der Braunschweiger musikalische Besuch mich doch einiges schon hat zurückschieben lassen, was ich nicht gern in Rückstand gerathen lasse.
Müller ist im Solo-Spiele, was ich seit mehreren Jahren, – seit Mendelssohns3 Anwesenheit in Braunschweig zur Paulus-Aufführung, – nicht von ihm hörte, seitdem in der That also vorgeschritten, wie man in den Lebensjahren solchen neuen Fortschritt nicht für möglich halten sollte; u sein daraus hervorgehender ununterbrochener enormer Fleiß, bey unverkennbar nur sehr eingeschränkten, eigentlichen Talente, verdient die größte Anerkennung; so wie seine, ihn fühlbar völlig tyrannisirende Künstler-Eifersucht auf dem Standpunkte, dem er auch als Solo-Spieler jetzt wirklich einnimmt, um so lächerlicher erscheinen muß!! – Das Concert am Dienstage in Goettingen kam wegen anderer vieler Gesellschaften pp nicht zu Stande; u wurde solches auf Sonnabend verlegt; wo es auch von völlig befriedigtem Publico recht besucht war; wenn gleich auch an dem Abende sogar zwey Bälle, u mehrere Diner‘s pp Abbruch thaten. – Auch in Northeim bereitete ich ihnen ein Conzert auf Freytag, was noch besuchter war. – Hier haben wir herrliche Sachen der classischeren Art von ihnen gehört; u entscheide ich mich hinsichtlich des Carl Richter dahin, daß ich ihn solche Sachen, Beethoven à la tête, außer allem Zweyfel lieber spielen höre, als selbst Willmers; – sein Anschlag u Scalen-Lauferey beyder Hände, in allen Richtungen mit u gegen einander, ist so kernig, dicke volle Töne bringend, u doch wie(?) scherzend, u so durchaus gleich u deutlich4 in den rapidesten Momenten, wie Willmers, – der in den moderneren [???] pp überlegen seyn mag – nach Ausweis seines Goettinger Vortrages des Beethovenschen Es-Dur-Concertes ab zu machen, völlig außer Stande ist! – Auch ist des Richter‘s Spiel ungleich vielseitiger, – dem eigenthümlichen Character jedes Componisten getreuer u schärfer hervorhebend, – eine Art characterlichen eigentlichen Talentes in Darstellung fremder Compositionen; währen auch die eigenen durchaus gesangreichen Compositionen des übermäßig bescheidenen jungen Künstlers mir sehr gefallen haben. Er ist ein Frankfurter, u langjähriger Schüler von Aloys Schmidt; dessen unläugbar vortreffliche Mechanik ihm dieselbe Pedanterie u bey5 weit mehr eigentlichen Genius im Vortrag usw(???) ungewöhnlich befriedigender Wirkung in seinem Spiele ist; so daß ich jetzt noch mehr bedaure, daß Sie u Ihre geniale Frau Gemahlin ihn in Braunschweig nicht gehört haben. – Ein solcher Lehrer des Piano ist für eine kunstliebende Stadt zweyfellos ein wahrer Schatz!
Für die Kräftigkeit seines Anschlags spricht auch, daß er die rapidesten Piecen, so wie überhaupt, lieber auf englischen Mechanismen spielt, als auf dem s. g. Wiener. Auch war Rittmüller von seiner Behandlung der Engländer so entzückt, daß er zu dem Northeimer Concerte expres ein solches Instrument dahin sandte, was Abends bey Mondenschein wieder zurückging; da ihm dieses bequemer war, als mein neues Instrument, was ich auch dafür gern offerirte, erst hier einzusenden, u dann hier auch wieder aufzustellen. –
Eine interessante Wirkung der Eisenbahnen erlebte Müller auch gerade in Berlin; indem Kisting ohne viele Umstände zu nennen 6 Tauber auf Einladung in Stettin zu gebenden Concerte, – 20 Meilen von Berlin, – ein demselben gerade sehr zusagendes Instrument, fertig gestimmt, am Concert-Nachmittage dahin u andern Morgens wieder zurückbegleitete! –
Müller erhielt auch eine Einladung bey Hofe zu speieln; – (wo auch die auch von ihm vergötterte Lind sang) – er wählte nach Meyer-Beer’s Rathe die Pieçe „Souvenir de Bellini“ von Artot, die ich in Northeim und Goettingen von ihm gehört habe. – Natürlich nicht mein Geschmack, das Zeug, aber allerdings in seiner Art ungemein schön vorgetragen von ihm! – Dennoch scandalisirte mich, daß Meyer-Beer diese Pieçe seines Concert-Repertoir‘s gewählt hatte! – Müller bemerkte aber, daß man bedenken müßte, wie gerade dieser Hof-Societät alle diese Bellinischen Melodien am bekanntesten u beliebtesten wären; u der Erfolg war auch glänzend gewesen. – Ein wirklich natürlich oder artifiziell recht gemüthlicher Zug des Königs war, daß Er an Müller nochmahls 20 Friedrichsd‘or nach Braunschweig sandte mit Hülfe der Eisenbahn so abgereist, daß sie ihm gerade am Weynacht-Abend zu Händen kamen. –
Jammervoll ist nur der Abgang so allen Compositions-Talentes!! – In das gar hübsch componirte u brillant vorgetragene 1st Concert von David, hatte er sich im Adagio-Satze eine Cadenz selbst eingelegt! – Die durch die Schönheit u die Art eines rührendern Vortrags der Töne an sich, – (sehr im Genre der Therese Milanollo) – auch wohl die meisten Zuhörer recht entzückte! – eben – eine so ungereimte Zusammenstellung, – eine solche fortlaufende Reihe von Frage ohne Antwort u wiederum von Antworten ohne vohergegangene Frage, – u daher jedem irgend musicalischen Sinn so unbefriedigendes u selbst so widerwärtiges Gefühl hervorrufend, daß es für mich fast noch schlimmer war, als jene Gesang-Anordnung des Lustspiels in welcher ein Zechbruder singen wil „Wer niemahls einen Rausch gehabt pp“ aber damit in die Melodie „In dieser heiligen Hallen pp“ gewährt, u der andere, der die letztere Arie singen will, damit umgekehrt in die Melodie des ersteren Liedes gerieth!7 – Eine häßliche Parodie so mancher neueren Opern-Singerey! –
Doch freuen Sie Sich, mein innigst verehrtester Gönner! daß nun endlich Abgang der Post zum raschen Schlusse drängt! –
Meine Frau erwidert auf das dankbarste Ihrer u Ihrer theuren Frau Gemahlin freundliche Begrüßungen, u empfehle Ihnen bey derseitig auch ich mich so herzlich dankbar als

innig verehrungsvoll
CFLueder.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 18.01.1845. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 10.02.1845.

[1] Die Kreuzfahrer.

[2] Vgl. J.P.S., „Ueber die neue Festoper von G. Meyerbeer zur Eröffnung des neuen Opernhauses“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 860-863.

[3] Vgl. Lueder an Spohr, 13.09.1839.

[4] „u deutlich“ über der Zeile eingefügt.

[5] „bey“ über der Zeile eingefügt.

[6] Hier ein Wort mit drei(?) Buchstaben gestrichen.

[7] [Louis Schneider], Fröhlich. Musikalisches Quodlibet in zwei Aufzügen, Berlin 1837, S. 50.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.06.2021).