Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.4 <Pott 18450105>

Sr. Wohlgeb.
Herrn Hofkapellmeister
August Pott
in
Oldenburg.

frei0


Cassel den 5ten
Januar 1845.

Geehrter Freund,

Auch wir, meine Frau und ich freuen uns auf das Zusammenseyn mit Ihnen und den Ihrigen auf einige Tage recht sehr und nehmen daher gern Ihre freundliche Einladung, bey Ihnen zu wohnen, an. Da Sie den Beginn der Ferienzeit für Ihr Unternehmen günstiger halten als das Ende1 werden wir zuerst zu Ihnen kommen. Die Ferien treten den 17ten oder 18ten Juni ein, wir können daher den 21sten oder 22sten bey Ihnen eintreffen. Die Wahl der aufzuführenden Musik überlasse ich ganz Ihnen, da ich nicht weiß, was von meinen neuern größern Kompositionen dort bereits zu Gehör gebracht ist, noch auch die Mittel kenne, über die Sie zu verfügen haben. Doch meine ich, es müsste bey dieser Veranlassung einiges dort noch Unbekannte gebracht werden, z.B. die Doppelsimphonie (die 7te,)2 oder sollte diese für Ihr Lokal und Ihre Besetzung sich nicht eignen, die historische (die 6te,) oder auch die für Wien geschriebene (die 5te)3 welche wir beym Musikfest in Braunschweig gaben. Ich könnte Ihnen, wenn Sie diese Sachen dort noch nicht haben, Partitur und Stimmen im Voraus zum Einüben zuschicken. Ganz ohne Vokalmusik dürfte jedoch das Concert nicht seyn; doch kann ich erklärlicherweise keine Vorschläge deshalb machen, da mir die zu verwendenden Kräfte gänzlich unbekannt sind. Ich habe mir ein neues Violinconcert geschrieben, welches ich, wenn Sie es wünschen, dort spielen werde.
Am Neujahrstage wurde meine neue Oper „die Kreuzfahrer“ zum ersten Mal gegeben und mit einem, für Cassel ganz beyspiellosen Enthusiasmus augenommen.4 So wenig Werth ich auch sonst auf den Beyfall des großen Publikums lege, so war mir diese allgemeine Theilnahme doch dieses Mals sehr wichtig und erfreulich, da sie mir Hoffnung giebt, daß mein Bestreben, die Oper in diesem Werke wieder auf die alte, naturgemäße Einfachheit und Wahrheit zurück zu führen, nicht ohne Erfolg seyn werde. Ich habe nämlich bey dieser Arbeit alles das, was5 in den aus Paris uns zugekommenen großen Opern in der Behandlung der Singstimmen und6 in der Form der Musikstücke stereotyp geworden ist, sorgfältig vermieden und der Gesang zur Gluck‘schen Einfachheit und Wahrheit der Empfindung zurückgeführt, ohne jedoch auf den Reichthum der neueren Harmoniefolgen und die effektvolle, moderne Instrumentirung zu verzichten. Zuerst bemerkte ich mit Vergnügen, daß die Sänger ihre Parthien worin nicht eine einzige Coloratur enthalten ist, demohngeachtet mit großem Eifer und immer wachsender Theilnah[me] studirten und nun hat sich meine H[off]nung bewährt, daß das Publikum auch ohne diesen gewohnten Flitter zu finden, und vielleicht aber deshalb, an dem Gesange und dem Wortausdruck den innigsten Antheil nahm und so im Mitgefühl der Situation immer mehr und mehr erwärmt wurde, bis es zuletzt in wahren Enthusiasmus ausbrach. -
Entschuldigen Sie, daß ich fast unbewußt mich so breit darüber ausgelassen habe; es war aber in den letzten Tagen in unserm Zirkel von fast weiter nichts die Rede und so bin ich auch mit angestekt worden!
Leben Sie wohl. Die herzlichsten Grüße an Ihre Fr. Gemahlin. Mit wahrer Freundschaft ganz

der Ihrige Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Pott an Spohr, 27.12.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Pott an Spohr, 24.02.1845.

[0] [Ergänzung 26.03.2021:] Rechts oben befindet sich auf dem Adressfeld der Poststempel „CASSEL / 5 / 1 / 1845“.

[1] „als das Ende“ über der Zeile eingefügt.

[2] Irdisches und Göttliches im Menschenleben.

[3] Op. 102.

[4] Vgl. Spohr an Adolph Hesse, 18.01.1845; O[tto] K[raushaar], „Cassel, im Januar 1845”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 47 (1845), Sp. 256-260, hier Sp. 258.

[5] Hier gestrichen: „nur“.

[6] „und“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (03.12.2020).