Autograf: Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Wolfenbüttel (D-Wa), Sign. VI Hs 11 Nr. 173, Bl. 5f.
Druck: „Ein Brief Louis Spohrs an den Hofkapellmeister Georg Müller in Braunschweig“, in: Braunschweigisches Magazin 19 (1913), S. 116f.

Cassel den 25sten
December 1844
 
Hochgeehrtester Herr Kapellmeister,
 
Recht sehr muß ich um Verzeihung bitten, daß ich Ihre geehrte Zuschrift erst jetzt beantworte. Ich war aber in den letzten Monathen so mit Theaterarbeiten überhäuft, daß ich erst spät die nöthige Ruhe finden konnte, um Ihr Werk mit aller der Aufmerksamkeit durchzusehen die es in hohem Grade verdient. Auch wollte ich gern von unserer Theaterdirection, der ich Ihre Oper, Ihrem Wunsche gemäß, zur Aufführung vorgeschlagen hatte, eine entscheidende Antwort haben, bevor ich Ihnen schrieb. Diese ist nun freilich so ausgefallen, wie ich es bey deutschen Werken schon gewohnt bin, nämlich ablehnend. Es ist nämlich, da wir keinen Intendanten haben, der Prinz1 selbst, der über die Annahme von neuen Werken entscheidet und so sehr er geneigt ist, alles was in Paris Glück gemacht hat, sogleich auf unser Theater zu verpflanzen, so wenig will er von deutschen Opern hören, selbst wenn sie bereits mit Erfolg gegeben worden sind. So habe ich mich in neuester Zeit vergeblich bemüht, den „Ostermorgen“ von Alois Schmitt, „Rienzi“ von Wagner und „Adele de Foix“ von Reisiger auf unser Theater zu bingen und so ist es mir mit vielen andern frühern auch gegangen. So ruhen auch die meisten der guten deutschen Opern, die wir früher gegeben haben, schon seit langer Zeit und unser Repertoire besteht fast aus nichts als Auber‘schen und Adam‘schen Operetten. Selbst meine eigenen Opern setze ich nicht mehr2 an, weil ich mich nicht der Gefahr aussetzen will, sie wie viele andere vom Repertoire ausgestrichen zu sehen.
Nun auf Ihr Werk zu kommen, so ist der Stoff zwar ein recht günstiger, der Verfasser hat aber nicht verstanden, ihm das wahre dramatische Leben zu geben. Meiner Meynung nach, hätten einige überflüssige Personen und Scenen ganz wegbleiben können, damit mehr Raum für die Hauptmomente und die Charakteristik der Hauptpersonen gewonnen worden wäre. Auch ist der Text sehr holpericht und wimmelt von ungehörigen und unwahren Worten und Ausdrücken, die der unglücklichste Reim herbey geführt hat, den die Operndichter immer noch nicht wollen fahren lassen, so unnöthig er auch bey der Oper ist. Auch die Form der Musikstücke ist bey den meisten keine für Komposition bequem und veranlaßte einige Male einen völligen Stillstand der Handlung, so daß ich mir denken kann, wie Sie bey einigen derselben Ihre liebe Noth gehabt haben werden. Betrachte ich nun aber nach alle diesem Ihre Partitur, so erfüllt mich Ihr Wissen und Können mit wahrer Achtung. Ihre Musik ist gut erfunden, der Situation angemessen, der Gesang fließend und dankbar für die Sänger und die Instrumentation schon eigenthümlich und efektvoll. Da Sie mir ein aufrichtiges Urtheil zur Pflicht machen, so will ich nicht verhelen, daß es mir scheint, als seyen mehrere der Scenen zu weit ausgesponnen, dem man durch späteres Streichen nicht abhfelen kann ohne in der Regel auch die Form der Musikstücke mehr oder weniger zu zerstören. Auch bin ich mit der Textbehandlung nicht immer einverstanden. Bey den meisten Musikstücken sind der Wortwiederholungen3 gar zu viele, wozu freilich der fragmentarische Text, der die Situation und die Gefühle der Handelnden nie in der gehörigen Breite giebt, wohl nöthigte. Solche Wiederhohlungen einzelner Worte und Sätze, die stattfinden, bevor die Periode geschlossen und der Sinn vollständig gegeben ist, sind aber gewiß verwerflich. Doch ist dieß alles nun Nebensache und bey künftigen Arbeiten leicht zu vermeiden, das Wesentliche, gute Erfindung und verständige Auffassung der Situation herrscht auch in diesem Werke vor.
Schlüßlich drängt es mich, Ihnen nochmals meinen herlichen Dank für das fleißige und meisterhafte Einüben meiner Komposition bey dem dortigen Musikfeste zu sagen. Mögte es mir vergönnt seyn, es recht bald in ähnlicher Weise zu erwidern.
Mit vorzüglicher Hochachtung
 
Ihr
ergebenster
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Müller, Georg
Erwähnte Personen: Friedrich Wilhelm Hessen-Kassel, Kurfürst
Reissiger, Carl Gottlieb
Erwähnte Kompositionen: Müller, Georg : Pino di Porto
Reissiger, Carl Gottlieb : Adèle de Foix
Schmitt, Aloys : Das Osterfest zu Paderborn
Wagner, Richard : Rienzi
Erwähnte Orte: Kassel
Paris
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844122513

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Müller an Spohr.
 
[1] Der spätere Kurfürst Friedrich Wilhelm.
 
[2] „mehr“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] „Wort-“ über gestrichenem „Text-“ eingefügt.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.11.2018).