Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Staehle:3
Druck: Hugo Staehle. Dokumente zu Leben, Werk und Wirkung des hessischen Komponisten, hrsg. v. Johannes Volker Schmidt (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 104), Hildesheim u.a. 2019, S. 52f.

Verehrtester Herr Capellmeister!

Sie haben Sich während meiner Anwesenheit in Cassel immer so gütig und liebevoll gegen mich gezeigt, daß ich nicht umhin kann, Ihnen nochmals meinen innigsten, tiefgefühltesten Dank zu sagen. Sein Sie versichert, daß Sie Ihre Liebe nicht an einen Unwürdigen verschwendet haben sollen und genehmigen Sie vielmehr die Versicherung, daß die Stunden, die ich so glücklich war, in Ihrer Nähe und in Ihrem so interessanten, wie lehrreichen Unterricht zu bringen zu können, mit zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens gehören werden.
Sie waren so gütig, mir vor meiner Abreise von Cassel, zu gestatten, daß meine Symphonie in einem der Winterconcerte aufgeführt werde; ich nehme mir daher jetzt die Erlaubniß, Sie in Kenntniß zu setzen, daß ich die Partitur und die Stimmen dazu, die ich hier in Leipzig habe fertig schreiben lassen, an meine Eltern geschickt habe, und daß sie daselbst jederzeit zur Ihrer geneigten Verfügung bereit liegen. Ich habe sie sämmtlich genau durch gesehen und alle Fehler, die ich gefunden, corrigirt, so daß Sie keine Wiederholung der schrecklichen Scenen in der Probe, die Sie noch während meiner Anwesenheit in Cassel veranstalteten, zu fürchten haben. Wie ich neulich gehört, so ist das erste Concert schon am vergangenen Mittwoch gewesen, wäre es wohl möglich, die Symphonie bis zum nächsten Concert einzustudiren. Es würde mir sehr lieb sein, wenn sie im zweiten Concert zur Aufführung könnte kommen, indem ich sie vielleicht auch in einem der hiesigen Gewandhausconcerte könnte aufführen und ich sie dann doch so bald, als möglich haben müßte. Jedoch überlasse ich dies jedoch ganz Ihrem Ermessen, da ich nicht weiß, wann das zweite Concert ist, also auch nicht, ob es möglich ist, die Symphonie bis dahin einzustudiren.
Wir haben jetzt hier sehr viel Musik gehabt, fast in jeder Woche zwei große Concerte. Unter andern habe ich auch Ernst gehört, allein ich muß aufrichtig gestehen, daß ich mehr erwartet hatte. Ernst zeichnet sich durch große Fertigkeit und durch einen schönen Ton aus, doch macht er zuviel Kunststückchen, welche ihm aber nicht immer gelingen, sie sind bisweilen ziemlich unrein, und was seinen Strich betrifft, so hört man oft ein häßliches Kratzen. Am wenigsten hat mir aber die Art, wie er Ihre Gesangscene auffaßte und spielte, gefallen; wie entbehrte man da Ihr zartes, gediegenes, herrliches Spiel! Auch konnte er es nicht lassen, sondern mußte sogar in dieses Concert, wo es sich doch am allerwenigsten paßt, ein paar von seinen Kunststückchen hineinbringen1, was ganz abscheulich war. Sehr schön spielt er jedoch die Quartetten von Haydn, Mozart, Beethoven. – Was mein Violinspiel betrifft, so setze ich das jetzt recht eifrig fort; ich habe Unterricht bei Herrn Concertmeister David genommen, und bin recht damit zufrieden, Herr David giebt sich alle mögliche Mühe.
Indem ich Sie bitte, mich Ihrer geschätzten Frau Gemahlin beßtens zu empfehlen, und mir Ihr ferneres Wohlwollen schenken zu wollen, unterzeichne ich

Ihr
dankbarer und ganz ergebenster Schüler
Hugo Staehle

Leipzig, d. 29. Novbr. 1844.

Autor(en): Staehle, Hugo
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: David, Ferdinand
Ernst, Heinrich Wilhelm
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Konzert in Form einer Gesangszene, Vl Orch, op. 47
Staehle, Hugo : Sinfonien, B.1.a.2
Erwähnte Orte: Kassel
Leipzig
Erwähnte Institutionen: Gewandhausorchester <Leipzig>
Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844112940

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Stähle an Spohr, 12.02.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Stähle an Spohr, 06.02.1845.

[1] Vgl. J[ulius] B[ecker], „Sechstes Abonnementconcert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. (Den 14. November 1844.)”, in: Signale für die musikalische Welt 2 (1844), S. 369f., hier S. 370. Ähnliche Eingriffe in Spohrs Notentext beschreibt auch Joseph Joachim (an Ferdinand David, 12.04.1847, in: Briefe von und an Joseph Joachim, hrsg. v. Johannes Joachim und Andreas Moser, Bd. 1 Die Jahre 1842-1857, Berlin 1911, S. 5f.).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (23.05.2016).