Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Catlenburg am 21st November 1844.
Endlich, mein innigst verehrtester Gönner! ist denn die Saison der Wurst-Fabrication wiederum eingetroffen! – Deren erstes beygehendes Pröbchen unserer herzlichsten Wünsche begleiten, daß Sie wie Ihre theure Frau Gemahlinn Sich völlig wohl für diese etwas derbe Land-Speise jetzt wie den ganzen Winter hindurch befinden mögen! –
Erwähnen muß ich Ihnen doch bey der Gelegenheit, wie unser, seinem Fache eben so enthusiastisch ergebener als ununterbrochen scharf darüber nachdenkender, Freund Rittmüller in der neuesten Zeit seine englischen Piano‘s nach wahren Risenschritten zu immer größerer Vollkommenheit hat machen lassen! – Nicht nach Zufall, sondern nach Grundsätzen; dann aber bey der Anwendung allerdings auch zufällige resp. acustiische und mechanische Entdeckungen zu Hülfe kommen. – Er hat jetzt einen derartigen Flügel in solchem seinem vel quasi1 Versuchs-Laboratorie stehen, der, ohne von der enormen Kraft u Fülle des Tones eingebüßt zu haben, an wohlklingender douceur2 u Annehmlichkeit der Spielart, welcher auch jede zierlichste Damen-Hand völlig gewachsen ist, alles überflügelt, was wir, seine Goettinger Freunde, einschließlich meines Bruders u meine Wenigkeit, bis dahin gehört und gesehen haben! –
Heute geht das vor einigen Monathen von ihm erhaltene Riesen-Instrument auf ein 2-5 Tage zu ihm zurück, um jene neuesten Zugaben u resp. kleinen Modificationen des Instruments überraschendster Wirksamkeit ebenfalls zu erhalten. –
Vorgestern war jener vorbezeichnete Flügel noch unverkauft; Preis, wie der meinige, 90 Louisd‘or: und wüßten Sie zufällig eine Familie, die auf eine solche Emplette3 dächte: so würde dieses Instrument als ein wahres Meisterstück seiner Art mit aller Zuverlässigkeit zu empfehlen stehen; aber – dafür große Eile räthlich seyn. – Ein 2tes eben dieser neuesten Modificationen war Vorgestern Tags zuvor schon verkauft; ich aber, u auch Rittmüller selbst, zog entschieden das noch unverkaufte vor; als großartiges von Ton, u mir auch angenehmer in der Spielart, – das für dann gewählte war mir etwas z u leicht von Spielart; u meine Schwägerin bezeichnete der Character bey beyder Instrumente recht treffend, indem sie meinte, sie würde das verkaufte die Frau, das noch unverkaufte den Mann nennen. –
In einem Gestern Abend erhaltenen Schreiben der Frau von Bülow in Braunschweig erwähnt dieselbe, daß der Violin-Virtuos Bazzini aus Neapel allda durch seine Paganinischen 4 Jonglirien großen Beyfall erobert, sie selbst aber, wie alle diese Nachahmer Paganini‘s, durchaus kalt gelassen habe. – Dagegen habe sie die Nettigkeit u gefühlvolle Zartheit des Vortrag‘s des Pianisten M.A. Russo in hohem Grade ergötzt u entzückt; der dagegen das Publicum nicht für sich erobert habe; welches mehr Schwierigkeiten sehen, als hören wolle! –
Ich meine, der Russo ist noch Knabe5 – ? – u Sie wie Ihre talentreiche Frau Gemahlin hätten ihn in London gehört u allerdings auch belobt?6 –
Das frappanteste was mir von Knaben-Leistungen jemahls vorgekommen ist, war mir jetzt in Leipzig der Joseph Joachim! – Ueber diese höchst mekrwürdige Erscheinung demnächst mündlich mehr. – Allerdings mogte meinen großen Vorliebe für den al[ten]7 Johann Sebastian und seine unerschöpflich reichen und überraschenden Harmonie-Verwicklungen u Auflösungen mit dazu beytragen, mich sehr für den interessanten Knaben zu 8 captiviren9; da gleich das meiste, was ich von ihm hörte, einige der Bachschen Violin-Solo-Compositionen waren: die er, – in Davidscher vel quasi Uebersetzung, – so hinreißend fantasieartig auswendig vorträgt, daß manches darunter, u.B. die Giaconne10, ungeachtet sie 12-15 Minuten einnimmt, wohl selbst das größere Publicum ergreifen u in hoher Spannung erhalten müßte! – Auch hat er gerade mit diesen Sachen in London am meisten Furore gemacht; und so wohl die Giaconne, als auch ein ziehmlich eben so langes Präludium u nachfolgende Fuge nach stürmischem Verlangen Da Capo spielen müssen!! – Da er alle diese Sachen auswendig spielt & so konnte ich in der Partitur-ähnlichen Solo-Stimme emsig nachlesen; u auch nicht ein Nötchen oder Pralltrillerchen pp fehlte seinen Glocken-reinen fortlaufenden Doppelgriffen in den mehrstimmigen Fugen! –
Unter den herzlichsten Begrüßungen meiner Frau so innig als unwandelbar dankbar
Ihr wärmster Verehrer
CF Lueder.
Carl Müller machte, nach dem Schreiben der Frau v. Bülow, glänzende Concerte u Geschäfte11 in Danzig u Königsberg, u ist jetzt auf der Rückreise begriffen. –
Autor(en): | Lueder, Christian Friedrich |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Bazzini, Antonio Bülow, Wilhelmine von Joachim, Joseph Lueder, Carl Wilhelm Lueder, Luise Sophie Charlotte Müller, Carl (Müller-Quartett 1) Russo, Michel Angelo Spohr, Marianne |
Erwähnte Kompositionen: | Bach, Johann Sebastian : Partiten, Vl, BWV 1004 |
Erwähnte Orte: | Braunschweig Danzig Göttingen Königsberg Leipzig |
Erwähnte Institutionen: | |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844112135 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 11.11.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 29.11.1844.
[1] „vel quasi“ (lat.) = „oder so ähnlich“.
[2] „Douceur, (spr. Duhßör) Süßigkeit, Sanftheit, ein Geschenk, Trinkgeld“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 159).
[3] „Emplette, fr. (spr. Enghpl – ) der Einkauf, das Eingekaufte; Empletten machen, einkaufen“ (Petri, S. 169).
[4] Hier gestrichen: „G“.
[5] Vgl. „Michel Angelo Russo (Nach englischen Zeitungen)“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 45 (1843), Sp. 420ff.
[6] In Marianne Spohrs London-Reisetagebuch von 1843 findet sich kein Hinweis auf Russo.
[7] Unleserlich durch Tintenfleck.
[8] Hier ein Wort gestrichen.
[9] „captiviren, I. gefangen nehmen, gefangen oder festhalten, fesseln“ (Petri, S. 75).
[10] Sic! recte: Chaconne (aus Partita BWV 1004).
[11] „u Geschäfte“ unter der Zeile eingefügt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.05.2021).