Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 111en November 1844.

Eben, mein innigst verehrtester Gönner! im Begriffe, Ihnen wegen Ihres Schützlings August Kömpel zu schreiben, und Sie mit der Bitte zweckmäßiger Verwendung einiger bey zu fügender Casse zu belästigen, wurde mir die Freude Ihres lieben Schreibens vom 9t d.M.! – welches uns insofern eine herzlich dankbare Beruhigung bringt, als daraus hervor zugehen scheint, daß der hoffnungsvolle Knabe dort bey braven Leuten einstweilen untergebracht ist! – Dieses scheint so wohl aus der höchst billigen Rechnungs-Stellung dieses Pol.1 Sergeanten Hrn Hartmann hervorzugehen, als auch aus dessen Ihnen gemachten ganzen Vortrage; – u auch die Erwähnung, daß seine Frau den Knaben lieb gewonnen habe, ist mir wahrhaft tröstl.2 für solche seine einstweil.3 Unterbringung. – Mir wahrer Freude übernehme ich daher, auf dem Grund Ihres fortgesetzt so befriedigenden u hoffnungsreichen liebevollen Zeugnisses, die Saldirung der von dem pp Hartmann verlangten monathlichen 4 Rth 25 Sgr für Wohnung, Morgen-Milch, Abendessen, und Wäsche, so wie während der Winter-Monathe noch 1 Rth für Feuerung u Licht. – Für die pünktliche Einzahlung an jedem Monaths-Schlusse werde ich sorgen. –
Auch unter diesem Verhältnisse schon ist es gewis ein Glück für den Knaben, daß der Vater4 fort ist! – wiewohl ich noch immer auf die von dem lieben Jean Pott verheissene Nachricht hoffte, ob etwa dessen verehrter Hr Vater5 geneigt seyn mögte, den Knaben gegen eine angemessene billige Vergütung in seinem zugleich mannigfach instructiven Hause mit aufzunehmen; u ich in dessen etwaiger Ermangelung darauf dachte, bey nächster Dortkunft vielleicht bey Hrn Weidemüller, oder Deichert, denselben Zweck zu erreichen; – bis wohin ich nicht meiner Seits an dem Dortseyn des Vaters zu rütteln wagte; in der Ungewißheit, wie das Allein-Stehen des lebhaften, u nach hiesigem Verhalten allerdings doch auch des Nachtreibens zum Zimmer-Fleisse etwas bedürfenden Knaben sich gestalten werde! – für den übrigens der Drang zum Umherlaufen hier allerdings durch so viele ihm neue Gegenstände einer größeren Landwirthschaft vielleicht in etwas gesteigert worden mögte. –
Ich muß den Vater jetzt auch für ein so untreues Subject halten, daß ich noch nicht dafür einstehen will, daß er eine etwaige Königliche Gabe, wenn sie erfolgen sollte, am Ende für seinen übrigen Haushalt verwende!! – pp –
Denn statt der resp. 1 und 4 Louisdor, die dem Knaben in Hildesheim u hier ausdrücklich für den Zweck seines Belehrungs-Aufenthaltes in Cassel gewidmet u dem Vater dafür übergeben waren, schrieb mir derselbe, in Cassel mit Einem Thaler angekommen zu seyn!6 u in seinem Rechtfertigungs-Schreiben, war von zu bezahlen gewesenen Capital-Zinsen die Rede, die mit Cassel – nichts gemein hatten! –
Auch scheint er die ihm am 19t August durch 3 Friedrichsd’or gesandten 17 Rth, – nach der jetzt zu übersehenden billigen Berechnung des pp Hartmann, u nach dem anliegenden Schreiben des armen Knaben vom 2t d.M., wahrscheinlich am 8t hier vorfand, – ebenfalls nicht ein Mahl ganz für den eigentl. Zweck verwandt zu haben! – da er nicht nur dem p Hartmann das Logis pp schuldig geblieben ist, sondern auch dem Schuster 2 Rth, u sogar dem Bäcker das Brod! – Wofür sind dann die 17 Rth verwandt – ? – da er nach seiner laconischen Anzeige vom 20t v.M. für die Heimreise einen Post-Frey-Schein erhalten hatte? –
Also in jedem Betracht gut, daß er fort ist! – – Ob er die Redlichkeit haben wird, dem pp Hartmann die contrahtirte Schuld zu berichtigen, scheint allerdings zweyfelhaft; wiewohl ich ihn zu einer förml. Rechnungslegung so wohl über obige 5 Louisd‘or als über die ihm gesandten 3 Friedrichd’or nun doch etwas nachdrücklich ine.7 der Geber auffordern werde!
Um aber den guten Willen des p Hartmann gegen den an dem Allen ja unschuldigen armen Knaben nicht zu gefährden, ist es am besten, auch solche Schuld jetzt mit zu bezahlen; u wenn der Vater deren Betrag denn etwa dem p Hartmann sendet: so dann das ja demnächst für des Knaben weitere Rechnung immer noch mit zu Hülfe genommen werden. –
Ihre liebevolle Theilnahme für den Knaben erdreistet mich nun, die beygehenden 23 Rth Ihnen zu adressiren, statt ihm8 selbst; um die zweckmäßige Verwandlung um so mehr zu sichern. – Die alte Schuld bey dem Hauswirthe beträgt – 12 Rth 26 Sgr 8 Pf, – die Avantzahlung an denselben pro Monath November 5 Rth 25 Sgr – die Schuster-Rechnung, nach Angaben des Knaben = 2½ Rth, zusammen also = 2 Rth 6 Sgr 8 Pf; und es bleiben also von jenen 23 Rth auch 1 Rth 23 Srg 2 Pf disponibel; zunächst für die Bäcker-Schuld, deren Betrag der August nicht mit bemerkt hat. –
Wollen Sie genemigen, die Quitirung der Empfänger durch den Knaben zu erfordern: so werde ich bey nächster Dortkunft Sie von der einstweil. gefälligen Aufbewahrung dieser Quitttungen wie des anligenden Briefes9 wieder befreien! – Grüßen Sie geneigtest denselben10 auf das liebevolleste von mir wie von meiner Frau die durch Ihre fortgesetzt so guten Zeugnisse hoch erfreut ist! – Daß denselben dort ein freyer Reihe-Mittags-Tisch zu Hülfe kommt, ist ein neuer Beweis der Ihnen gehörenden Liebe dortiger Kunstfreunde, u der gerechten Verehrung Ihres größten A l l e r Opfer für ihn; – des ihm gewidmeten Unterricht-Zeit-Aufwandes! – – Bey meiner Dortkunft werde ich dann seine Garderobe in etwas perlustriren11; um das Bedürfniß stets anständig gekleidet zu seyn, resp. zu werden u nach Nothdurft zu befriedigen. –
Nun aber endlich zu dem übrigen mir über alles interessanten Inhalte Ihres lieben Schreibens! – Also – ein neues Violin-Concert in 3 Sätzen! – Welche ein herrlicher Gedanke! – u wie freue ich mich auf diesen Genuß!! – Auch auf die Oper12 bin ich höchst gespannt! – u da jetzt schon der Tag der Ausführung für sie bestimmt ist: so hoffe ich um so mehr, meine Dortkunft dazu im voraus sicher stellen zu können! – Daß Derska’s(?) Führung übrigens ungewöhnlich schwer seyn werde, war ich im voraus überzeugt! – Arien u Romanzen pp, die in der gewöhnlichen Form leicht die halbe Oper einnehmen, sind natürlich leichter zu memoriren u zu singen, als der Gesang ununterbrochen fortschreitender Handlung! – Auch erfordert diese noch um vieles erhöht die Tugend der deutschen Aussprache, – das Proben nach declamatorischem Gesange à la Firnhaber; – und also zugleich eine vortrefl. Uebung der dramatischen Sänger u Sängerinnen! –
Die Oper in Leipzig fanden wir jetzt wieder so schlecht, wie man in einer so großen u reichen Stadt das für geradezu unmöglich halten sollte!! – um so mehr zu bedauern, als dasselbe Orchester im Gewandthaus-Concerte ungeachtet mit das vollendeteste von größerer Orchester-Aufführung darboth, was ich in irgendwo gehört habe. – Dieser Eindruck wollte um so mehr sagen als wir eben von Braunschweig kamen!13 – wo namentlich die Ausführung auch Ihrer wahren Pracht Symphonie doch wirklich nichts mehr zu wünschen übrig ließ! – u man also gerade sehr verwöhnt war! – Welche Eindrücke in dessen allerdings durch die höchst ungenügende Ausführung der Zauberflöte das Werk(?) ebendas(?) bereits wieder etwas durchlöchert waren! – so wie schon in Braunschweig selbst, durch die auch weniger als sonst daselbst gelingende Ausführung des Robert, – dem Abgedroschenen! –
Ich mögte glauben, daß die ganz ungewöhnlich concentrirte Aufstellung des Orchesters im Gewandhause viel zu seiner großartig inponirenden Wirkung beyträgt; wobey ich nur rathsam fände, – u diese Rüge auch von Gade u David eingeräumt wurde, – daß der Pauker von seinem, das ganze Orchester überrangenden Trohne14 herabgebracht werde! – das einzige was hie u da auffallend zu tadeln war, – Indescretion der Pauken! – u sicher mit durch deren hohen Standpunkt.
Doch wie sündige ich da ein Mahl wieder, Ihrer so kostbaren Zeit gegenüber, darauf loos! Verzeihung! – Innigst

Ihr Verehrer CFLueder.

Meine Frau empfiehlt sich Ihnen wie mit mir Ihrer theuren verehrten Frau Gemahlinn auf das herzlichste. –



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Lueder an Spohr, 09.11.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 21.11.1844.

[1] Abk. f. „Polizei“.

[2] Abk. f. „tröstlich“.

[3] Abk. f. „einstweilige“.

[4] Georg Kömpel.

[5] Anton Bott.

[6] Vgl. Lueder an Spohr, 03.07.1844.

[7] Abk. f. „in nomine“ (lat.) = „im Namen“.

[8] „ihm“ über gestrichenem „dem Knaben“ eingefügt.

[9] Hier gestrichen: „des Knaben“.

[10] „denselben“ unter gestrichenem Wort eingefügt.

[11]perlustriren, durchsehn, durchmustern, durchschauen“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 344).

[12] Die Kreuzfahrer.

[13] Spohr dirigierte beim Musikfest in Braunschweig unter anderem seine 5. Sinfonie op. 102 (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 30.09.1844).

[14] Sic!

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.06.2021).