Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287


Catlenburg am 16t September 1844

Um bey Ihnen, mein innigst verehrtester Gönner! gegen die anscheinende Indolenz mich zu legitimiren, als hätte ich Ihre Violin-Schule hier etwas bis zu deren gelegentl. Uebersendung durch den liebenswürdigen Bott bey mir überliegen lassen, lege ich Bachmanns Schreiben an, wonach solche erst am 1sten d.M. von Hannover abging, u am 10t,, Abends vor meiner Fahrt zum Goettinger Concerte, hier einging. – Allerdings gedachte ich solche zu Anfang dem August Kömpel zu schenken; auch nur flüchtig eines Abends darin herum blickend, fand ich dieses großartige Werk aber so interessant, daß ich es doch in meiner kleinen Musicalien-Bibliothek zu behalten wünschte! um so mehr, als ja vielleicht auch noch einem andern hoffnungsvollen Jünglinge leihweise muß1 damit ausgeholfen werden kann; u deren Herbeyschaffung immer schwieriger zu werden scheint. Uebrigens kann sie der Kömpel natürlich behalten, so lange als sein Studium es erfordere! –
Von Bott2 hörte ich nun die ungemein interessante Nachricht Ihres freundlichen Auftrages, daß Donnerstag den 26 d.M. in Braunschweig auch Jessonda unter Ihrer Direction werde aufgeführt werden!3 mein schon so lange gehegter Wunsch! – Auch glaube ich verstanden zu haben, daß die Probe der Oper am 25t schon sey, u Sie daher am 24sten schon in Braunschweig eintreffen würden. Vielleicht habe ich mich noch vorher Bott‘s Besuches zu erfreuen; der mir dann darüber letzte bestimmte Kunde wird referiren können.
Ich hatte nämlich schon bey letzter Anwesenheit in Braunschweig in Veranlassung der Wettrennen die Absicht, wo möglich zu veranlassen, daß auch Bott eine Orchester-Einladung erhalte. Das war nicht werkstellig zu machen, weil H Schade verreist, u keiner der anderen Herren in den wenigen für Besuche mir freyen Stunden zu treffen war. Carl Müller, dem ich davon sagte, meinte, die große Entfernung ohne Eisenbahn-Erleichterung vermehre die Transportkosten zu sehr. – Nachdem ich dem trefl. Jüngling nun jedoch(?) in Goettingen darüber gesprochen, u mit Bestimmtheit dadurch wußte, daß ihm solcher Aufenthalt in Braunschweig zu übrigen Geschäften u Plänen passe, u ihm4 also natürlich in hohem Grade interessant dazu werde, habe ich sogleich noch an Oberstl. von Graeve, – Mitglied des Comité, geschrieben, ob er des tüchtigen Jean ‘s Einladung unter dem Verhältnisse noch schnell vermitteln könne u wolle, daß dieser in Kurzem mich wiederum für einige Zeit besuchen, u also, mit mir reisend, ohne Transport-Kasten zu veranlassen, eine solche nur brevi manu an mich zu adressirenden Einladung würde folgen können. –
Sollte nun die Antwort lauten, daß alle Violin-Pulte bereits so besetzt seyn, daß buchstäblich kein Platz auf dem Orchester mehr für ihn sey, – was ohne Zweyfel möglich ist, – so werde ich ihn einladen, diese Kunst-Excursion dennoch als mein Gast mitzumachen; nicht nur weil ich dem liebenswürdigen Jünglinge diesen hohen Genuß an sich gern bereiten mögte, sondern weil ich es auch für ein jugendliches Genie seines Fluges für nützlich u folgenreich ersprießlich halte, daß er derartige Meisterwerke auch in solcher größeren Austattung unter deren genialen Schöpfers eigener Leitung höre, u seines edlen Lehrers Verhalten bey auch derartiger vel quasi Riesen-Directionen sehe; u. [???] alles vielleicht sogar5 noch entflammter u instructiver wirkt, wenn er alle seine Seelenkräfte dem Zuhören u Beobachten überlassen kann, als wenn er im Orchester mitzuwirken hat. –
Möglich wäre auch, daß ich von Braunschweig ab am 2t k.M. eine EisenbahnExcursion nach Berlin zur National-Garten-Ausstellung machte, u zum ersten Gewandthaus-Concerte in Leipzig; am 5t, zu welchem auch Mendelssohn daselbst erwartet wird, u wenn der Vater6 nichts dagegen hat, würde er mich eintretenden Falles auch dahin begleiten können. –
Die betrübende Veranlassung der plötzlichen Abreise der guten Tivendell‘s von dort ist auch uns sehr nahe gegangen! –
Zu dem neulich in Braunschweig gehaltenen vielfachen u recht interessanten musicalischen Genüssen gehörte gleich am Abend meiner Ankunft auch die recht brave Ausführung des ersten Ihrer prachtvollen Doppel-Quartette in der Abendunterhaltung des musicalischen Vereins im Saale des Medicinischen Gartens. – Im ersten Allegro gieng nur, – wenigstens auf meinem Platze, – durch zu viel Schall das nur in seiner Mitte mit etwa 200 Personen besetzten Saales manches7 verloren. Dagegen war das Adagio von herrlicher Wirkung; u auch im Scherzo u Finale wirkte der Schall weniger die Deutlichkeit störend, als im ersten Allegro.
Sodann habe ich dort auch noch, außer den neu ausgestatteten Opern Robert der T. u Aschenbrödel8, – in einer Soirée bey Frau v. Bülow einen überaus vortreffl. jungen Pianisten kennen lernen; Richter; der sich zunächst als Lehrer jetzt dort fixirt hat, wahrhaft so vortreflich.
Auch habe ich die Freude gehabt, bey Ihrem Herrn Bruder in flüchtigem Morgen-Stündchen sein9 jüngeres Töchterchen Harfe spielen zu hören; wofür ihr nur ein besseres Instrument zu wünschen wäre! – Bey diesem Besuche hörte ich auch, daß Sie dennoch bey Ihrem H Bruder zu logiren diesem hinterher noch zugesagt hätten, was denn herzlich für Hn Schade bey seiner Rückkehr von damahliger Reise nach Berlin eine höchst unerwünschte Enttäuschung gewesen seyn wird!!10
Ueber das neuliche Concert in Goettingen wird Bott, – welcher wiederum höchst vortreflich darinn spielte, – manches referirt haben. – Wehner leistete an dem mannigfach interessanten Abende bedeutend mehr, als ich unwillkürlich ihm zugetraut hatte; u ich mögte jetzt mich überzeugt halten, daß er doch einen wohl begründeten inneren Berufe folgte, indem er der Kunst ganz sich zu widmen beschloß; was mich sehr erfreut hat. –
Daß wir in dem Braunschweiger Concerte des 2t Tages den Hochgenuß entbehren würden, auch Sie Selbst etwas vortragen zu hören, habe ich gleich gefürchtet! – Die Directions-Fatigue der Vorlage, u der „Weihe der Töne“ an solchem Morgen selbst noch wieder, erschienen mir zu groß, um jener Hoffnung mich zu überlassen, während ich die dort gesezte Hoffnung, daß Sie äußersten Falles doch vielleicht die erste Stimme des Maurerschen Quadrupel-Concertes vielleicht übernehmen würden, unwillkürlich als unpaßlich u deplacirt empfand. – Recht sehr aber freuet mich, daß, – nach Bott‘s Erwähnung, nun auf Ihre Empfehlung das Mauersche Sextupel-Violin-Concert von Carl Müller, Lipinsky, David, Ulrich, u Zimmermann11 vorgetragen werden wird12; – gewis ein seltenes Zusammentreffen! – den 6t wußte Bott nicht; – schwerlich hätten die verehrten Herren ihn selbst dazu wählen können, ohne der Mitwirkung ihrer 6fachen Concertirung zu schaden!! – Mit jedem Mahle daß ich ihn höre, finde ich sein Spiel großartiger u bezaubernder! – wenn gleich der Schluß seiner neuesten Variationen, im Allgemeinen u dem Genre nach nicht gerade zu meiner Liebhabereyen gehört! –
Ihnen wie Ihrer theuren Frau Gemahlin mit meiner Frau mich auf das herzlichste empfehlend so innig als unwandelbar
Ihr

dankbarster u wärmster Verehrer
CFLueder.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 13.08.1844. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 23. oder 24.09.1844.

[1] „muß“ über der Zeile eingefügt.

[2] Jean-Joseph Bott.

[3] Stattdessen vermerkt Marianne Spohr für diesen Abend Maria Dolores von Louis Köhler (vgl. Tagebucheintrag 26.09.1844).

[4] „ihm“ über der Zeile eingefügt.

[5] „sogar“ über der Zeile eingefügt.

[6] Anton Bott.

[7] „manches“ über der Zeile eingefügt.

[8] La Cenerentola von Gioachino Rossini.

[9] Am Wortende gestrichen: „e“.

[10] Vgl. Louis Spohr an Wilhelm Spohr, 09.08.1844.

[11] Hier gestrichen: „, so denn(???)“.

[12] Tatsächlich erklang dann doch Louis Maurers Concertante für 4 Violinen und Orchester (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 30.09.1844).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.05.2021).