Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Braunschweig, den 12. September 1844.

Hochzuverehrender Herr Hofcapellmeister!

Ihr geehrtes Schreiben vom 27. vor. Monats liiefert wieder so viele Beweise, wie sehr Sie unser Unternehmen auf jede Art zu unterstützen bereit sind, daß wir fast besorgen müssen, Ew. Hochwohlgeboren zuletzt noch, zumal bei der spärlich zugemessenen Zeit, durch überhäufte musikalische Anstrengungen allen Genuß während Ihres hiesigen Aufenthalts zu verkümmern und uns deshalb auch leichter darin finden, wenn der anfängliche Plan des Festes nicht in allen seinen Theilen sich in Ausführung bringen lassen sollte.
Dieses scheint namentlich mit der Jessonda der Fall zu werden. Es wird immer wahrscheinlicher, daß unser Herzog in den Tagen vor Michaelis von Merseburg noch nicht hierher zurückgekerht sein wird, und da er eine Einladung des Intendanten doch immer für eine in seinem Namen ergehende an- und diese deshlab in jemen Falle nicht gern sieht, überdieß Madame Fischer gewisser Umstände wegen wahrscheinlich nicht im Stande sein wird, vom 22. bis zum 25. dieses Monats irgend eine nicht ganz unbedeutende Parthie zu singen, so ist so wohl über die Direction, als nun auch über die Aufführung der Oper selbst zur Zeit so wenig Bestimmtheit zu erlangen, daß wie es doch für gerathener halten, auf diese bei unserem Unternehmen lieber gar keine Rücksicht mehr zu nehmen, zumal dieses Ihnen bei nicht verlängertem Urlaube so große Opfer auferlegen würde, und daß wir Sie deshalb nur ersuchen wollen, dem anfänglichen Plane gemäß Ihre Ankunft auf Donnerstag Mittag festzusetzen. Auch ist es vielleicht recht gut, daß wir Sie diesesmal nicht gleich, zu zu sagen, bei allen 4 Zipfeln fassen, sondern uns noch vieles belibt, worauf wir uns für eine andere Gelegenheit freuen können.
Die Chorprobe des Oratoriums1 hier und in Wolfenbüttel (dessen Gesangverein, wie ich vielleicht noch nicht erwähnt habe, unter den tüchtigen Organisten Strube sich unserer Akademie anschließen wird,) haben einen sehr eifrigen und erspießlichen Fortgang, und an den nächsten Tagen wird auch die Aegydienkirche ganz geräumt sein, worauf sogleich die akustischen Experimente beginnen werden, für welche alles bereit ist.
Ihr gütiges Erbieten hinsichtlich der 5. Symphonie nimmt die Capelle natürlich mit allen 100 und mehr Händen dankbarst an und der Capellmeister, welcher besorgt, zur Einübung derselben, je mehr die Aufführung des Oratoriums sich nähert, immer weniger Zeit übrig zu behalten, läßt nun recht baldige Uebersendung der Partitur und Stimmen [Würden Sie diesen wohl2 auch die gefällig zugesagten Orchesterstimmen zum Oratorium Gleich beizufügen die Güte haben?]3 bitten, welche wir sorgfältig hüten wollen. Denn ich werde mich doch darin nicht irren, daß ich erst noch kürzlich gelesen zu haben glaube, sie sei noch Manuscript. – Je erfreuiliches es sich mit diesem Haupttheile des 1. Concert gestaltet hat, desto ungewisser ist dagegen noch alles hinsichtlich des übrigen Repertoires. Die Schuld liegt hauptsächlich an Lipinski, welcher unbegreiflicherweise auf unsere, schon vor 14 Tagen ergangene Einladung, einer Erinnerung ungeachtet, noch immer nicht geantwortet hat. Da wir Sie diesesmal leider! nicht selbst auf der Geige hören werden, so würde mit der Frage: wer nun das Hauptsolo auf der Violine übernehmen soll, ein Rangstreit zunächst zwischen Lipinski und David entstehen, zu dessen Vermeidung wir den letzteren ganz aufgegeben haben, besonders da er in Franzensbrunnen sein und das erste Gewandhausconcert auf Michaelis fallen soll, bei welchem er diesesmal schwerlich entbehrt werden kann, weil Gade dort noch Neuling ist. – Die Ungewißheit über Lipinskis Mitwirkung hat aber eine solche auch hinsichtlich des Quadrupelconcerts zur Folge, usw doch muß sich alles in den nächsten Tagen entscheiden. – Als Ouvertüre ist übrigens (nicht von mir) gleich4 die zum Lear von Berlioz in Vorschlag gebracht. Würde Ihnen diese wohl nicht unlieb sein? Bei der Capelle hat der Vorschlag deshalb Anklang gefunden, weil diese bekanntlich von B. sehr herausgestrichen ist.5
Wenn wir Sie nun Donnerstag Mittag hier erwarten dürfen, so würde die Zeit für Proben und Aufführungen etwa so zu bestimmen sein:
Donnerstag Nachmittag: Chorprobe zum Fall Babylon’s (welche, wenn Ew Hochwohlgeboren von der Reise noch zu ermüdet sein sollten, der Capellmeister Müller ganz oder theilweise unter ihrer Leitung halten kann; (Abends: Jessonda?);
Freitag Morgens: Solistenprobe; Nachmittags: Probe zum Oratorium mit Solisten, Chor und kleinem Orchester;
Sonnabend Morgens: Probe zum 2ten Concerte; Nachmittags: Generalprobe zum Oratorium;
Sonntag: Oratorium; Montag: Concert.
Auf diese Weise dürfen wir doch hoffen, Sie am letzten Tage noch ruhig in unserer Mitte zu behalten. Sobald die noch ungewissen Puncte festgestellt sind, werde ich nicht verfehlen, Ew. Hochwohlgeboren davon zu benachrichtigen.
Für heute bleibt mir nur noch die Bitte, meiner hochgeehrtesten Frau Collegin6 mich angelegentlich zu empfehlen, so wie die Versicherung meiner unveränderlichen Hochachtung und Verehrung

Gehorsamst
EOtto.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Otto, 27.08.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Otto an Spohr, 26.09.1844.

[1] Der Fall B abylons.

[2] „wohl“ über der Zeile eingefügt.

[3] Audruck in Klammern am unteren Seitenrand eingefügt.

[4] „gleich“ am rechten Seitenrand eingefügt.

[5] Zur Berlioz-Begeisterung in Braunschweig vgl. Wolf[gang] Rob[bert] Griepenkerl, Ritter Berlioz in Braunschweig. Zur Charakteristik dieses Tondichters, Braunschweig 1843.

[6] Marianne Spohr (vgl. Otto an Spohr, 23.08.1844).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.05.2022).