Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Catlenburg am 3ten Juli 1844.
Ihr liebes Schreiben vom 10ten d.M., mein innigst verehrtester Gönner! hat mich mit der größten Freude u innigsten Dankverehrung erneuert erfüllt! –
Allerdings wäre mir der Anfang September lieber gewesen, als dessen Ende! – indem ich auf ein außer den Zeitungs-Einladungen von den einschlägl. Münchener Berühmtheiten auch speciell mir zureichende so freundliche als dringende Einladung zu der vom 30sten Sptbr. daselbst zu währenden(???) VIIIten Versammlung der deutschen Land- und Fortwirthe1 solche weite Reise zu überwinden projectirt hatte! – Ein schon seit langen Jahren ersehntes Braunschweiger Musikfest unter Ihrer Leitung, u Ihren Fall Babylons, kann ich aber2 unmöglich im Stiche lassen!! – u es bestimmt diese Caramboulage zweyer höchst interessanter Versammlungen mich um so mehr, die entferntere für das Mahl aufzugeben! –
Am Donnerstage vor Michaelis also werde auch ich in Braunschweig eintreffen; in der Hoffnung, unter Ihren Flügeln auch den Vorproben beywohnen zu dürfen; indem der Genuß einer solchen mit Piano u Quartett-Begleitung im Stadtbau mir allerdings den Genuß der General-Probe u Haupt-Aufführung dieses classischen Meisterwerkes bey der letzten dortigen Aufführung im Theater noch wesentlichen Meisterwerkes bey der letzten dortigen Aufführung im Theater noch wesentlich erhöhte. – Man kann die Chöre u Fugen vor der Haupt-Aufführung nicht oft genug gehört haben, um bey dem letzten Total-Eindrucke in deren Schönheiten immer noch detaillirter u tiefer eindringen zu können! –
Auch die Aussicht, Ihre neue Oper3 alldort bald in Scene gesetzt zu sehen, erfreut mich sehr! – wenn gleich solche in Braunschweig unter Ihrer Leitung allerdings noch interessanter seyn dürfte! – Im voraus aber bitte ich herzlich um Nachricht gleich4 der ersten dortigen Aufführung, da ich solche nicht versäumen mögte! –
(Marschner arbeitete5 im April an einer neuen Oper, „Adolph von Nassau“; – die eben vollendete Introduction u erste Scene des 3ten Actes spielte u sang er mir vor; was mir sehr anziehend u interessant erschien. Theatralisch-kirchlicher Styl.)
Auch Ihre Belebung der neuen Netzerschen Oper erfreut mich sehr, als fernerer Beweis der fortschreitenden Bestrebung unserer deutschen Oper; u gewis würde ich am 20sten solcher „Mara“6 mich zuwenden, um zugleich so viel früher von Ihrer Pariser Reise zu hören, wenn nicht am 19ten u 20ten das Braunschweiger Wettrennen wäre, welches nicht zu versäumen ich als Pferdezüchter wenigsten ein indirectes Interesse habe; so wenig ich mich auf die italienische Lajerey freuen kann, mit der gewöhnlich des Herzog mittelst speciellen Befehls als dann die auswärtigen Sportsman‘s ganz besonders regaliren zu können vermeint; u – für diese Art von sehr vornehmem7 von „Hörer-Pöbel“ allerdings oftmahls auch leider nicht ohne allen Grund! –
Ich vermuthete, daß Sie die Milanolli in Brüssel getroffen u gehört hätten; indem sie dahingingen, um, – wie der Vater sich ausdrückte, – während der 3 Sommer-Monathe bey Bériot „noch etwas zu studieren“. Er äußerte die bestimmte Absicht, als dann im October auch nach Cassel, u von da auch nach Goettingen zu kommen. Er bemerkte dabey, Cassel stehe zwar nicht in sehr anziehenden Rufe für den fremden Künstler, – (was ich in etwas zu berichtigen suchte) – es sey aber in keinem Falle mehr auszulassen, um Ihnen seine Töchter zu präsentiren; wonach besonders auch die interssante Therese ein großes Verlangen äußerte. – Deren Spiel rührt u ergreift tief zu Anfang im Adagio durch die Art des Tremulirens à la Paganini, u frappirt im Allegro besonders durch die Leichtigkeit u Nettigkeit des Staccato welches sie bey abwechselnd wachsendem u schwindendem Ton nach Willkühr von der äußersten Spitze des Bogens bis unmittelbar an den Frosch herauf u herunter aus, beydes aber widerholt sich, – meinem Gefühl u Layen-Urtheile nach, – in der Art ihres Vortrages zu viel, um durch diese pikanten8 Confitüre nicht gleichsam zu übersättigen, u andauernd so zu befriedigen, daß man9 nicht nach auch großen u vollen Strichen u festem großen Tönen sich sehnen sollte. – Da ich sie aber nur einen Abend gehört habe: so konnte das auch mit in der Wahl des modernen, allenthalben zunächst auf das Pikanste berechneten, Compositionen liegen. – Unbefriedigende Intonation hatte ich nur in einem einzigen Momente bemerkt in einem Octaven-Gange im Adagio des 3ten Concertes von Bériot; u ich vermuthe, daß auch daran nur die Manir des Tremulirens Antheils hatte; indem die Bebungen der Fingerchen vielleicht nicht genau dieselben Schwingungen bewirkten. – So tief ergreifend, klagend-wehmüthig-gefühlvoll ihr Adagio-Vortrag ist, – zu Mahl das erste was man von ihr hört, – so nicht komisch u durchaus zum Lachen zwingend war der Votrag beider Schwestern des für 2 Violinen arrangirte Ernstsche Carneval‘s von Venedig. – Man sahe unwillkürlich im Geiste diese u jene Puliginelli10 ihre muthwilligen masquirten Schwenke ausführen. – Das übrige Solo-Spiel der jüngeren, ist noch das eines abgerichteten Kanarien-Vogels pp; aber in höchstem Maaße leicht, elegant, u rein. – Die äußere Erscheinung der älteren ist ungleich tiefer, u, ohne schön zu seyn, anziehender, als die der jüngern es werden dürfte; wenn gleich sie hübscher werden mögte, u um vieles kecker.
Ihre ferner so günstige Beurtheilung u Zeugniß des August Kömpel erfreut uns auf das herzlichste! – u besonders auch meine Frau; deren Haupt-Liebling er hier wurde.
Wegen Ihrer, ihm allerdings wohl vor allem unentbehrlichen Violin-Schule habe ich sogleich nach Hannover geschrieben, u hoffe sie ihm baldigst senden zu können.
Er hatte mir von dort geschrieben; – aber offenbar von dem Vater diktirt; dem ich daher auch antwortete, u mir erlaubte solches Schreiben mit 3 Friedrichsd‘or von Rfenstein11 aus an Ihre verehrte Adresse zu knüpfen, weil er schrieb, ein Privat-Logis beziehen zu wollen, ohne dieses schon bezeichnen zu können. – In etwas auffallend war mir die Erwähnung, daß sie mit 18 Rth. von Hause abgereist, u mit 1 Rth in Cassel angekommen seyen!! – So(???) hatte(?) der Knabe in Hildesheim von meinem Cousin, Amtmann Lueder, 1 Louis, u hier durch mich von Frl. v. Hedemann 4 Louis, speciell für den Aufenthalt in Cassel eingehändigt erhalten. Davon muß also der Vater doch eine andere Bestimmung gegeben haben! – 12 Wie konnte er wagen, mit Einem(?) Thaler in Cassel einzuziehen? – Beydes war mir so räthselhaft, daß ich dem Vater das nothwendig offen ausdrücken mußte; – u paßlich erachtete, ihm bemerklich zu machen, daß die 2te Hälfte der ihm meiner Seits für das 1ste Jahr ausgesetzten 6 Louis13 zahlbar seyn werde, wenn bey Antritt des 2ten halben Jahres der Fleiß u die guten Fortschritte des August denselben Ihres ferneren edelmüthigen Unterrichtes noch noch gleich würdig erscheinen lassen würden. Das ist aber so ernstlich nicht gemeint!! – Er kann die anderen 3 Louis gern sogleich erhalten, wenn Sie mir sagen, daß er sie wirklich jetzt bedarf! – u wenn er nur wohl fließig zu Ihrer vollen Zufriedenheit ist. – Ähnliche Versuch bey einigen anderen wohlhabenden Kunstfreunden kann ich erst machen, wenn die Bade-Reise-Zeit erst vorüber ist. – Für diesen Versuch aber, wie auch für die Verwebndung an seinen König, scheint es mir ein Fehlgriff gegen Welt u Menschen-Kenntniß, daß er schon vor dessen Entscheidung nach Cassel abreiste; wenn gleich die lobenswerthe Sehnsucht nach dem beschleunigten Anfange Ihres edelmüthigen Unterrichtes das entschädigt! – Meine Frau empfiehlt sich Ihnen u mit mir Ihrer theuren Frau Gemahlin innigst herzlich! – Mit Herz u Mund – Ihr so wamer als dankbarer Verehrer
CFLueder.
Autor(en): | Lueder, Christian Friedrich |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Bériot, Charles Auguste de Hedemann, (Fräulein) von Kömpel, August Kömpel, Georg Lueder, Carl Lueder, Wilhelmine Henriette Caroline Marschner, Heinrich Milanollo, Giuseppe Milanollo, Maria Milanollo, Teresa |
Erwähnte Kompositionen: | Bériot, Charles-Auguste de : Konzerte, Vl Orch, op. 44 Ernst, Heinrich Wilhelm : Le carnaval de Venise, op. 18 Marschner, Heinrich : Kaiser Adolph von Nassau Netzer, Joseph : Mara Spohr, Louis : Der Fall Babylons Spohr, Louis : Die Kreuzfahrer |
Erwähnte Orte: | Braunschweig Brüssel Hildesheim Kassel Paris Reifenstein |
Erwähnte Institutionen: | Hoftheater <Braunschweig> Hoftheater <Kassel> Musikfeste <Braunschweig> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844081335 |
Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 10.08.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 16.09.1844.
[1] Vgl. Bericht über die achte Versammlung teutscher Land- und Forstwirthe zu München vom 30. September bis 7. Oktober 1844, München 1845.
[2] „aber“ über der Zeile eingefügt.
[3] Die Kreuzfahrer.
[4] „gleich“ über der Zeile eingefügt.
[5] Hier gestrichen: „arbeitete“.
[6] Zur Aufführung von Joseph Netzers Oper Mara in Kassel am 20.08.1844 vgl. O[tto] K[raushaar], „Cassel, im August 1844“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 664-667 und 683ff., hier Sp. 683ff.; Netzer an Spohr, 25.04.1844.
[7] „sehr vornehmen“ über der Zeile eingefügt.
[8] „pikanten“ über der Zeile eingefügt.
[9] „man“ über der Zeile eingefügt.
[10] Sic! vermutlich Mehrzahl zur Commedia-dell’arte Figur Pulcinella.
[11] Offensichtlich Abk. oder Verschreibung für „Reifenstein“.
[12] Hier zwei nicht entzifferte Zeichen.
[13] „6 Louis“ über gestrichenem Wort eingefügt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.05.2021).