Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Geliebter Onkel!

Der Schluß deines lieben Briefes1, welchen die Cousine Agnes heute Mittag aus der Academie, wo er ihr vom H. Assessor Otto behändigt war, mitbrachte, hat uns alle gleich nach dem großen Jubel über deine verfolgte Zusage wieder in so tiefe Betrübnis gestürzt, daß der Onkel Wilhelm vor Unmuth kaum Worte finden konnte und die Tante Louise bis jetzt noch nicht vermocht hat, ihre Thränen zu stillen. – Zwar wird dir nun morgen der Onkel selbst schreiben, um dich zu einer Änderung des letzten Entschlusses hinsichtlich deines hiesigen Logis beim Musikfeste und zur Erfüllung der uns früher so bündig gegebenen Zusage zu vermögen: da derselbe jedoch schwerlich dort alle Gründe aussprechen dürfte, die es uns zur ernstlichsten Ehrensache machen auf deinem Verweilen bei uns während des Musikfestes zu bestehen, so habe ich es mir nicht versagen können, seinen Brief noch mit ein paar Zeilen zu begleiten, wovon ich dich bitte, doch ja mit keiner Silbe gegen Onkel u. Tante zu erwähnen.
Es ist dir nur zu gut bekannt, daß man dem guten Onkel Wilhelm nur den einzigen gering gegründeten Vorwurf machen kann, daß er über dem Hange zum Kartenspiel seinen Dienst vernachlässigt und vor einigen Jahren wirklich verloren hat.2 Die damit verknüpfte angebliche Verringerung der Einnahmen trieb uns zur Veräußerung unserer ehemaligen so reizenden Gartenbesitzung am Wendenthore, die der Tante Louise schon so manche bittere Thräne gekostet hat, und ohne die es jenen Leuten jetzt gewiß nicht beigekommen sein würde, dir statt des von dir (wie sie wussten) uns schon zugesagten Besuches einen unbedingt geräumigeren besseren Aufenthalt anzubieten. – Viele Demüthigungen und Kränkungen hat namentlich Tante Louise seit jener schrecklichen Katastrophe erdulden müssen, indessen sie ohne alles eigene Verschulden, das des Onkels mitbüßte; nichts aber würde der gleichkommen, wenn (nachdem sie freudig allen Freunden versichert hat, du würdest wenn du kämest, jedenfalls wieder nur bei uns wohnen und gewiß jedes andere noch so glänzende Anerbieten ablehnen,) sie es erleben müßte, daß du hier in irgend einen anderen Logis zubrächtest, – eben weil ihr dieses Eine alles Schmerzliche was sie seit Jahren unschuldig erleiden mußte, nun auf einmal unaufhörlich vergegenwärtigen würde. – Es scheint den servilen Aristokratendienern, wozu H. Schade ganz besonders und in minderm Grade leider auch der sonst vortreffliche Otto gehört, anstößig gewesen zu sein, doch hier in das Haus eines pensionierten Cammerbaumeisters einzuladen welches vielleicht Leute wie der Minister von Schleinitz (Director des Concertvereines und also auch der Academie, der es ohnehin nicht für gut gefunden haben wird, die zweite Einladung3, oder das Gesuch wegen deines Urlaubs mit zu unterzeichnen) Anstand nehmen könnten (es war wegen des demokratischen Geruches darin) zu betreten; und gerade hierin liegt ins wahrhaft Kränkendste für uns. Der Fall würde vielleicht dem ähnlich sein, wie wenn man den Professor Gaus4 von Göttingen hier nicht gern bei seinem Bruder, dem Todtencassenboten Gaus5 besuchen möchte. Der Kaufmann Schade, ein Mann, der weder hinsichtlich des Characters und der Moralität im besondern Rufe steht, noch eben geistreich ist und dem bedinglich sein Geld beim großen Haufen Ansehen zu geben und das übersehen zu lassen vermag, was ihm an sonstigen Vorzügen mangelt, ist freilich wenig geeignet, Gegenstand unseres Neides zu sein, aber würden wir dich hier wohl im Hause eines Mannes gern aufsuchen und ihm Verbindlichkeiten schuldig werden wollen, den wir von jeher so sehr verachtet haben. – Es mag sein, daß du uns ein großes Opfer bringst, wenn du mit dem vielleicht beschränkteren Aufenthalte bei uns vorlieb nimmst; doch würden wir gewiß Alles aufbieten, dir dies Opfer zu erleichtern, wenn der gottlob jetzt wieder blühende Wohlstand unseres Vermögens uns unterstützen wird. – Vieles mögte ich noch hinzufügen doch die unberedte Feder würde es nicht getreu wiedergeben; nur das Eine füge ich noch hinzu, daß, wenn du einmal nicht bei uns sein könntest, mir die Freude am Musikfeste hier theilzunehmen uns versagen und so lange fern von Braunschweig zubringen müssen, weil wir den Hohn derjenigen die dann unsre beabsichtigte Kränkung erreicht haben und auf uns als „gemeines Volk“ mit Fingern zeigen würden nicht auszuhalten im Stande sind, – auch Rosalie, die täglich wohl 5 bis 6 Stunden geübt hat um dir hier dein Harfenconcert zu deiner Zufriedenheit vorspielen zu können. – Ich weiß, daß es nicht deine Absicht war, uns so viel Schmerz zu bereiten aber die Folgen würden wenigstens dieselben sein.
Ich bitte dich geliebter Onkel! überlege es dir nun noch einmal und mache daß uns Tante Louise nicht mehr zu weinen braucht!
Vorgestern verließ uns die Tante Charlotte aus Holzminden, die mit ihren zwei Mädchen uns vor der beabsichtigten Reise nach Marseille (Ende September d.J.) noch einmal hatte sehen wollen. Vergeblich hofften wir, August würde sie wenigstens abholen, doch ist ihm Braunschweig aus ähnlichen Gründen zu sehr odiös6, wie die, welche auch7 unsern neuesten Kummer geboren haben. Mache du es wieder gut, was der Onkel W. wirklich verschuldet hat; für seine Familie hat er wenigstens von jeher mehr gethan, als Millionen Andere und darum scheint er es wohl werth zu sein, daß auch seine Familie es wiederum mit ihm halte.
Mit den herzlichsten Grüßen an die Tante Marianne und alle übrigen Verwandte

dein dich aufrichtig liebender und verehrender Neffe
W. Krämer

Braunschweig den 11 Aug 1844 Abends.

Autor(en): Krämer, Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Gauß, Carl Friedrich
Gauß, Georg
Otto, Eduard
Schade, Eduard
Spohr, Agnes
Spohr, Charlotte
Spohr, Louise
Spohr, Rosalie
Spohr, Wilhelm
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844081130

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Krämer an Spohr, 19.05.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Krämer an Spohr, 04.10.1847.

[1] Louis Spohr an Wilhelm Spohr, 09.08.1844.

[2] Vgl. „Ermittlung gegen den Kammerbaumeister Wilhelm Spohr wegen Dienstvernachlässigung“, Niedersöchsisches Landesarchiv, Abt. Wolfenbüttel, Best. WO 38 Neu 2 Nr. 130 (s. Arcinsys); „Ermittlung gegen den Kammerbaumeister Wilhelm Spohr wegen Dienstvernachlässigung“, Niedersöchsisches Landesarchiv, Abt. Wolfenbüttel, Best. WO 38 Neu Fb. 6 Nr. 1634 (s. Arcinsys).

[3] Noch nicht ermittelt.

[4] Carl Friedrich Gauß.

[5] Georg Gauß.

[6]odiös, l. gehässig, ärgerlich, verhaßt“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 316).

[7] „auch“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.05.2022).