Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochzuverehrender Herr Hofkapellmeister!

Wie ich von Herzen wünsche und hoffe, werden Ew. Hochwohlgeboren, wenn Sie meine Depesche öffnen, recht wohlbehalten von Paris zurück gekehrt sein, und Ihre hiesigen Freunde nicht bloß demnächst sicher wieder auf eine musikalische Reisebeschreibung der so beliebt gewordenen Art, welche erst Ihnen ihre Entstehung verdankt, zu freuen haben, sondern auch noch vor Ablauf dieses Quartals recht viel Interessantes von dem dort Erlebten zu hören bekommen.
Mit dem Vorbehalte, daß auch Ew. Hochwohlgeboren der Tag genehm sei, haben wir nämlich zur Aufführung von Babylons Fall nunmehr gerade den Michaelistag, also

Sonntag, den 29. September, Morgens 11 Uhr,

bestimmt, hauptsächlich um für den Chor, welcher durch die Sommermesse in seinen Studien etwas gestört wird, zum sorgfältigen Einüben die nöthige Zeit und für auswärtige Zuhörer den gelegenten Tag in der ganzen zweiten Hälfte des Jahres zu gewinnen: für die Generalprobe, welche hier auch stets in der Aegydienkirche gehalten und selbst schon als Concert behandelt wird, dürfte demzufolge der vorhergehende Sonnabend Nachmittag der geeignetste Zeitpunct sein, weil Morgens Capelle und Theatersänger, dessen männliche Mitglieder bei unseren großen Aufführungen mitwirken, im Theater beschäftigt zu sein pflegen.
Wenn Ew. Hochwohlgeboren nun außer dieser auch nur eine der zwei Chor-Proben und eine mit den Solisten selbst leiten, (Letztere vielleicht mit Chor- und einiger Instrumentalbegleitung, wie die hiesigen Solisten sie sich vor der Generalprobe gern ausbitten), so würden doch, da Sie, zumal mit Damen, die Reise hieher ohne Strapazen schwerlich in Einem Tage werden machen können, die verheißenen acht Tage kaum für das Concert und seine Vorbereitungen hinreichen, auch wenn die erste Chorprobe schon auf den Tag Ihrer Ankunft, jener Tage zur Reise gerechnet, Nachmittags oder gegen Abend, angesetzt wird. Deshalb werden wir jeden Tag verlängerten Urlaubs als einen Gewinn betrachten und uns besonders freuen, wenn Sie nicht genöthigt sein sollten, uns gleich nach der Aufführung wieder zu verlassen. Denn vor dieser wird sich an einer andern öffentlichen Aufführung nicht wohl denken lassen, und es gleichmal sehr zu beklagen sein und sehr beklagt werden, wenn Sie wieder abreisen, ohne daß wir auch im Theater, oder im Concertsaale, oder (was das Wünschenswertheste wäre) in beiden etwas von Ihnen gehört hätten. Bei der Ungewißheit der Dauer Ihres hiesigen Aufenthalts kann ich indessen in dieser Beziehung noch keine bestimmten Vorschläge machen, und will für heute meine Wünsche darauf beschränken; daß wir nur erst den Urlaub überhaupt für Sie ausgewirkt haben mögen!
Zu dem Ende erfolgt hierbei das Gesuch1 an den Kurprinzen, und zwar sub sigillo volante2 damit Ew. Hochwohlgeboren es vorher selbst prüfen und nachher doch verschlossen überreichen können. – ein etwas diplomatischer Kunstgriff, welchen ich deshalb für räthlich hielt, weil ich, unbekannt mit der Denkungsart des Kurprinzen, überhaupt oder in einzelnen Ausdrücken den ihm zusagenden Ton nicht getroffen haben könnte, in welchen Fällen ich das Gesuch zurückzuhalten, oder vorher dort thunlichst abändern zu lassen bitte. Auch habe ich es vorsorglich nur von dem Director der Akademie, und nicht auch von den übrigen, ohnehin hierbei wenig betheiligten Mitgliedern des Vereins für Concertmusik, insbesondere nicht von dem Staatsminister von Schleinitz unterschreiben lassen, weil unser Durchlauchtigster mit Ihrem Allerdurchlauchtigsten nicht in dem besten Vernehmen stehen soll, und die bezüglichen Correspondenzen von Schleinitz unterzeichnet hat. Deshalb wird es unserem Gesuche auch nur förderlich sein, wenn Ew. Hochwohlgeboren mündlich gegen den Kurprinzen ebenfalls nicht da von erwähnen, daß Schleinitz als Präsident des Vereins bei dem Unternehmen mitbetheiligt sei. Im Uebrigen kann ich dagegen nur den Wunsch wiederholen: daß der Kurprinz dem Beispiele des Herzogs folgen möge, welche so eben sämmtliche Instrumenta- und Vocalkünste des Hoftheaters und des Militairs zur Disposition für das Concert zu stellen geruht hat.
Die zweite Anlage enthält ein Gesuch3 unseres Schatzmeisters von Ew. Hochwohlgeboren, welches ich mir nochmals zu bevorworten erlaube. Die eigene zahlreiche Familie Ihres Herrn Bruders, der muthmaßliche Besuch aller übrigen Verwandten aus dem Herzogthum und den Zudrang einheimischer und fremder Künstler und Kunstfreunde, welchen Sie außer den Ihrigen ihm diesesmal mit in’s Haus bringen, dürften es in allerseitigen Interesse vor der brüderlichen Liebe rechtfertigen, wenn Sie für dasmal das musikalische Hauptquartier im Hause des Herrn Schade aufschlagen, welcher zwar verheiratet ist, (wenn ich nicht irre, mit der Tocher eines Hannoverschen Beamten), aber keine Kinder und Raum genug für die zahlreichste Begleitung hat.
Noch ein drittes, etwas unbescheidenes Anliegen bitte ich besonders zu entschuldigen. Das Oratorium ist dort schon zur Aufführung gebracht. Würden Sie uns wohl mit einigen Instrumental-Ripienstimmen auszuhelfen die Gewogenheit haben? Es versteht sich von selbst, daß wir uns von jeder Stimme eine genügende Anzahl gestochener Exemplare selbst anschaffen. Wie viele aber hiernach zu regieren sind, wird sich darnach bestimmen, wie viele wir von dort geliehen bekommen können. Wäre mir nicht versichert, daß bei Instrumentalstimmen eine solche Aushülfe etwas ganz Unbedenkliches und allgemein Herkömmliches sei, so würde ich am wenigsten bei Ew. Hochwohlgeboren eine solche Bitte anzubringen wagen.
Endlich erlaube ich mir noch die Anfrage: ob Sie im Besitze von Beschreibungen und Beurtheilungen der Aufführungen in Norwich und Hannover Square Rooms (Exeter-Hall?)4 in Englischen Blättern Sich befinden? durch ihre Mittehilung nur auf ganz kurze Zeit, wenn sie auch eben nicht gehaltvoll sein sollten, würden Sie mich sehr verpflichten.
Sobald der Kurprinz entscheiden haben wird, darf ich vor allem wohl auf Benachrichtigung rechnen? Denn von dieser hängen so mancherlei eilige Maßregeln ab, welche bis jetzt suspendirt werden mußten, weil sie verschieden einzurichten sind, je nachdem Ew. Hochwohlgeboren kommen oder – –
Doch das fatale „nicht“ will ich nicht einmal denken, geschweige schreiben, am wenigsten aber damit schließen. Es ist mir hier schon manches gelungen, was man für unmöglich hielt; sollte es mir nun dort mißlingen? das verhüte der heilige Michael, Deutschlands Patron, unter dessen Schutz und Schirm das Fest gestellt ist, in der zuversichtlichen Hoffnung, daß er seinen Namenstag ebenso zu Ehren bringen werde, wie der Deutsche, trotz aller Spöttereien des unmusikalischen Auslandes, den Mane seines Heiligen längst zu Ehren gebracht hat. Und jedenfalls wird Ihnen, persönlich, der Kurprinz etwas abschlagen könen? Gewiß nicht, wenn er von Ihnen nur so denkt, wie ich;
d. h.:
Stets mit aufrichtigster Hochachtung und Verehrung.

Ew. Hochwohlgeboren
gehorsamster
EOtto.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Otto an Spohr, 01.06.1844. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Otto, 03.08.1844.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] „sub sigilo volante“ (lat.) = „unter offenem Siegel“.

[3] Eduard Schade an Spohr, 24.07.1844.

[4] Während seines Londonaufenthalts 1843 dirigierte Spohr sein Oratorium Der Fall Babylons sowohl in den Hanover Square Rooms als auch in der Exeter Hall (vgl. Karl Traugott Goldbach, „Zwei Aufführungen von Der Fall Babylons. Einblicke in das Londoner Konzertmarketing 1843“, in: Musikwissenschaft Leipzig. Eine (Quellen-)Texte-Sammlung des Zentrums für Musikwissenschaft Leipzig, Leipzig 2021.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.05.2022).