Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochzuverehrender Herr Hofcapellmeister!

Als ich mir im Juli 1842 die Erlaubniß nahm, Ew. Hochwohlgeboren mit meinem Projecte der Stiftung einer Singakademie bekannt zu machen und mir über die schwierigsten Puncte Rath und Anleitung von Ihnen zu erbethen1, schied ich mit dem Wunsche, daß wir Sie recht bald wieder hier sehen möchten, alsdann aber als Leiter einer Musikfestes und an der Spitze der neuen Anstalt!
Der eine Theil meines Wunsches, die Stiftung der Akademie, ist bereits am 22. November desselben Jahres in Erfüllung gegangen, und den anderen legt Ihnen in dem angeschlossenen Schreiben2 jetzt auch der Gesammt-Vorstand der Akademie dringend ans Herz. Da mir indessen die größere Förmlichkeit des Letzteren nicht gestattete, manche Puncte in denselben zu berühren, über welche Ew Hochwohlgeboren zuvor eine genauere Auskunft zu erhalten wünschen könnten, so darf ich mir wohl erlauben, noch einige Zeilen halb officiell, halb confidentiell beizufügen, nachdem ich über die rein artistischen Angelegenheiten mit dem Hofkapellmeister Müller3, welcher mit seinen Brüdern4 heute eine Reise nach Danzig pp. angetreten hat, umständlich Rücksprache genommen habe.
I. In dem Schreiben des Vereins für Concertmusik ist zwar nur von der Aufführung des Belsazar5 (wie ich das Oratorium der Kürze wegen nennen werde) und als Concert die Rede. Allein das ganze hiesige Publicum würde sich für sehr getäuscht halten, wenn ihm nicht ein zweiter Tag Gelegenheit verschaffte, Ew Hochwohlgeboren auch als Geigenvirtuosen zu hören. Da ein solcher Tag jedoch vorzugsweise der Instrumentalmusik gewidmet sein würde, von welcher, bei raschem Tempo, besonders in Symphonien, Ouverturen &c, für einen Theil der Zuhörer in den colossalen Räumen der Aegidienkirche gar vieles verloren geht, so ist der medicinische Saal dafür weit geeigneter, in welchem aber die Akademie, wegen ihrer numerischen Stärke, nicht mitwirken kann. Deshalb beschränkt sich die Einladung auf den Belsazar, in derselben Art, wie wir 1839 Mendelssohn zunächst auch nur zur Aufführung des Paulus als Concert eingeladen haben. Ein zweiter Tag, welcher sich dabei, sobald Sie ihn nur wünschen, von selbst versteht, erfordert ohnehin weit weniger Vorbereitungen, zu welchen immer noch Zeit genug ist. Hier nur die Versicherung: Capelle und Solisten der hiesigen Oper, so wie der Concertverein werden gern alles aufbiethen, um auch diesen zweiten Tag möglichst nach Ihren Wünschen einzurichten. – Daß wir dabei auch hoffen, Ihre Opern, besonders Jessonda, alsdann unter Ihrer Direction zu hören, so wie die Veranstaltung von Quartettunterhaltungen pp. sind endlich Dinge, welche sich wohl ebenfalls von selbst verstehen, aber noch weniger in den Bereich der Wirksamkeit des Vereins gehören und in der Einladung daher ebenfalls übergangen sind.
II. Was die Aufführung des Belsazar betrifft, so würden wir an den Chor, wenn Ew. Hochwohlgeboren damit einverstanden sein sollten, dadurch noch verstärken, oder vielmehr einen bemerkbaren Wechsel in der Klangfarbe hervorbringen können, daß wir den hiesigen, sehr starken und gut geübten Militairsängerchor mit hinzuziehen, um von ihm die Chöre der persischen Krieger allein vortragen zu lassen. Dieß ist auch bei der Aufführung des Weltgerichts unter Schneiders Direction geschehen und hat6 damals den Kriegerchören einen besonders kräftig, kriegerischen Charakter verliehen.
b. Sollten Ew Hochwohlgeboren wünschen, einige Chorproben selbst zu leiten, so hätten Sie wohl die Güte, bei der Bestimmung der Zeit des Concerts und Ihrer Abreise von Cassel hierauf einige Rücksicht zu nehmen.
c. Die Besetzung der Soloparthien macht einige Schwierigkeit, zumal die Partitur uns noch nicht vorliegt. Nach dem Clavierauszuge würden sie folgendermaßen zu vertheilen sein:
1. Belsazar, tiefer Bass: Fischer.
2. Cyrus, hoher Bass: Pöck.
3. Daniel, Tenor: Schmetzer (besonders im Oratorio ausgezeichnet).
4. Die Königin Mutter Nikotris, Alt: Madame Müller.
5. Jüdin, Sopran: Madame Fischer-Achten.
6. Deren Mann, Tenor: Schmetzer.
7. Zweite Jüdin, Alt: Madame Müller.
8. Zweiter Jude, Baß: Fischer.
Diese sind sämtlich Solisten der Oper und zugleich Mitglieder der Akademie. Sollten Sie es indessen nicht passend halten, daß 1 und 8, 3 und 6, 4 und 7 von denselben Personen übernommen werden, so würde die Akademie noch die Kapellmeisterin Methfessel und Fräul. Mejo6b (Sopran) vom Theater, so wie Fräul. Quenstedt (Sopran)7 und deren Schwester, Madame Naake8 (Alt), Dilettantinnen, und die Herrn Bussmeyer (Tenor, für die Kirche zu schwach) und Kahn (Baß, nicht sehr tief) vom Theater in Reserve haben. – Vor allem entsteht dabei die Frage, ob das Sopransolo mit Chor No. 1. von der Jüdin sub 5, das Quartettsolo in Nr 13 von den Personen 5-8 und das Quartett Nr. 27 von 5, 6 und 7, oder ob diese Pieçen, so wie das Trio in Nr 24 von anderen Personen, namentlich von Mitgliedern des Chors zu übernehmen sind? Im letzteren Falle würde es uns, so wie
9. für den zweiten9 Sopran in dem Quartett Nr. 27 an Dilettanten wohl auch nicht fehlen.
10. Chaldäischer Wahrsager, Tenor: Engel, Dilettant.
11. Erster Soldat, Tenor: Theatersänger Schulz.
12. Zweiter " , Baß: Theatersolist Kahn.
d. Das Orchester beläuft sich auf etwa 120 Executanten. Die Angaben, wie hier die einzelnen Stimmen zu besetzen seien pp, muß ich mir bis zur Ankunft der Partitur vorbehalten.
e. Der Zweck der Aufführung ist zwar ein artistisch-selbstnütziger. Sie wird nämlich zum Besten der Akademie selbst veranstaltet, wie auch der Paulus zum Besten der Casse des Concertvereins gegeben wurde. Allein der zweite Tag kann füglich einem wohlthätigen Zwecke gewidmet werden, dessen Bestimmung ganz von Ew Hochwohlgeboren abhängen würde. Nur für den Fall, daß Ihnen dieser übrigens gleichgültig sein sollte, erlaube ich mir die unvorgreifliche Bemerkung, wie das Fest alsdann vielleicht noch mehr zu einem patriotischen würde erhoben werden, wenn der größte Tondichter und Tonkünstler aus unserem Lande den Betrag dem Andenken unseres größten dramatischen Dichters Lessing widmete, zu dessen Denkmal – bereits von Rauch entworfen – den nöthigen Fonds noch immer nicht vollständig herbei geschafft sind.
III. Für Ihre Reise und Ihrem hiesigen Aufenthalt zu sorgen, wird sich der Verein demnächst zu seiner ersten Pflicht machen. Ueber den letzteren Punct insbesondere hier vorläufig nur so viel: Ein Mitglied des Vereins und zugleich Schatzmeister der Akademie, Kaufmann Schade, welcher dem Capellmeister Schneider sehr befreundet ist und denselben mit seiner ganzen Familie schon mehrmals bei ähnlichen Festen beherbergt hat, wird es sich zur besonderen Ehre machen, Ew Hochwohlgeboren nebst Frau gemahlin zu allen sonstigen Angehörigen, welche Sie mit hierher zu bringen wünschen sollten, in seiner sehr freundlich am Walle belegenen Wohnung aufnehmen zu dürfen, und wird eine besondere Einladung selbst ergehen lassen, sobald Ew. Hochwohlgeboren nur erst unsere Einladung überhaupt angenommen haben werden.
IV. Doch ich weiß leider! schon durch die von mir mittelst des Herrn Notars Krämer eingezogenen Erkundigungen, daß wir dazu nur für den Monat Juli gewisse Aussicht haben, und leider! ist es mir nicht gelungen, gleich den übrigen Hindernissen, die musikalische Bedenklichkeit des Capellmeisters Müller gegen eine Aufführung in diesem Monate zu beseitigen, weil ich sie selbst theile und mir vorzugsweise daran liegt, daß die Akademie bei Ihnen Ehre einlege, da ich sie wohl als meine Schöpfung betrachten darf. Was indessen von hieraus irgend geschehen kann, um Ew Hochwohlgeboren den Urlaub für den Monat September auszuwirken, soll gewiß geschehen. Die Versicherung in dem Einladungsschreiben, daß die Akademie Ihre Compositionen mit Vorliebe singt, ist nichts weniger, als ein bloßes Compliment. Zum Beweise lege ich ein Paar von unsern Textbüchern bei, wie sie mir gerade in die Hand fallen. Ihre unmittelbare Einwirkung würde deshalb der Anstalt ein besonders reges Leben verleihen. Möchte es Ihnen doch gestattet sein, von Ihrem Juliurlaub wenigstens 8-14 Tage auf den September zu übertragen! Sollte dazu ein Gesuch von hieraus nützen können, so bitte ich nur, mich10 wissen zu lassen, wie es einzurichten und an welche Behörde es zu richten sei? Kann die Vermittelung des Gesandten von Hruby Geleny vielleicht nützen, oder würde sie wohl gar schaden? Da ich nicht weiß, ob das Wegziehen des Gesandten von Cassel dort nicht11 einen ungünstigen Eindruck gemacht hat, so mag ich ohne Verwendung nicht in Anspruch nehmen, wenn Sie es nicht vorher gut hießen. –
Sollten übrigens alle Versuche doch scheitern, so haben Sie wohl die Gewogenheit, außer einigen Zeilen an den Koncertverein auf die Einladung zur Direction des Oratoriums, mir über die Punkte II a. c. d. und über alles, was Ihnen sonst zu einer recht würdigen Aufführung zweckdienlich scheinen sollte, besondere Mittheilung zu machen. Fleiß und Mühe darf hier um so weniger gespart werden, weil die Aufführung, so viel ich weiß, die erste große in Deutschland ist, und die Eröffnung der Eisenbahnen nach Halberstadt, Magdeburg, Berlin, Leipzig pp. im vorigen Jahre und die am 1. künftigen Monats bevorstehende Eröffnung der Bahn nach Hannover pp., so wie die Harz-Eisenbahn einen ganz ungewöhnlichen Zudrang von Fremden verheißen!
Und da wollten Sie dennoch selbst fehlen? Das kann ich mir gar nicht als möglich denken! Und deshalb will ich auch nur den Fall Ihres Kommens setzen und für diesen mir noch eine kleine Anmerkung erlauben, (eine Dame würde ein Postscript daraus machen): Sollte Ihnen, als Freund mehr des Violin pp als des papiernen Briefbogens, die alsdann unvermeidliche fernere Correspondenz zuweilen lästig fallen, so weiß ich, daß Sie in Ihrer Frau Gemalin nicht bloß eine ausgezeichnete Virtuosin auf dem Klavier, sondern auch einen sehr gewandten Geheimen-Secretair besitzen, als dessen College ich es für eine besondere Ehre halten werde, wenn die Correspondenz auch nur, oder richtiger: sogar durch die Hand Ihrer Frau Gemahlin mit oder ohne Postscripte12 geführt wird, welcher ich mich schließlich wieder zum Umblättern bei Trios bestens13 empfohlen haben will, vorausgesetzt, daß sie zwar das Blättchen so wendet, daß unser aller Wunsch erfüllt wird, mit welchem deshalb14 als Endschluß, dieses Blatt schließe:
daß Sie mit den Ihrigen kommen!

Mit aufrichtiger Verehrung
gehorsamst
EOtto.

Braunschweig, den 11. Mai 1844.



Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Otto an Spohr, 01.06.1844.

[1] Zur Begegnung zwischen Spohr und Otto in Karlsbad vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 28. und 29.07.1842

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] Georg Müller.

[4] Carl, Gustav und Theodor Müller.

[5] Spohrs Der Fall Babylons.

[6]„hat“ über der Zeile eingefügt.

[6b] [Ergänzung 19.01.2024:] Ab 1845 verh. Höfler.

[7] Karoline Quenstedt.

[8] Maria geb. Quenstedt.

[9] „zweiten“ über der Zeile eingefügt.

[10] Hier gestrichen: „es“.

[11] „nicht“ über der Zeile eingefügt.

[12] „Postscripten“ über der Zeile eingefügt.

[13] „bestens“ über der Zeile eingefügt.

[14] „deshalb“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.05.2022).