Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Firnhaber:12


Lieber Herr Capellmeister!

Ich ziehe heute ein rothes Blatt aus meiner Schreibmappe, daß es gleich in seiner äußern Erscheinung sich1 Ihnen als ein Blatt der Liebe und Freundschaft verkündige. Haben Sie mir auch auf zwei Briefe nicht geantwortet, so fühle ich mich dennoch mit Ihnen fortwährend so liirt, daß ich den 5ten April mitzufeiern berechtigt zu seyn glaube. Gern wäre ich zu Ihnen gekommen, ja! ich dachte wirklich daran, statt dieses Briefes mich selbst heute Abend auf die Post zu geben u Sie dann morgen beim Beginn des Conzertes zu überraschen: aber ich befinde mich wieder, ähnlich wie im vorigen Jahre zur selben Zeit, in einer so ungewissen lage, daß ich die Maingegend zu verlassen augenblicklich nicht für gut finde. Das klingt wieder sehr mystisch, ist’s auch u endet am Ende wieder just wie im vorigen Jahre. Man muß ja alles gewohnt werden!
Vor heute Abend hätte ich keinesfalls abreisen können, da ich die Partie des Evangelisten in der Bachschen Passion für heute Abend zu singen übernommen habe. Ich dachte dabei lebhaft an voriges Jahr, wo Sie mir die Partie zu übertragen gedachten, ich aber aus verdammten Rücksichten darauf einzugehen nicht wagte. Nun ich gestehe, es wäre doch damals ein Leichtsinn gewesen, denn mir ist noch keine schwierigere Partie vorgekommen; die Arie mit vorangehendem Rezitativ lasse ich mir noch gefallen, das ist lyrischer Erguß, das geht für mich, da kann ich meine Individualität hineintragen; aber jene langen epischen Erzählungen, wenn sie nicht monoton werden sollen, bedürfen der angestrengtesten Aufmerksamkeit, ganz davon abgesehen, daß der Sänger sich so sehr in Acht zu nehmen hat, in solche Gänge zu gerathen. Ich habe ein Paar Tage daran zu studiren gehabt, halte mich [???] seit vorgestern hier auf, um unter des umsichtigen Messer’s Leitung vollkommen Herr der Partie zu werden.
Wenn ich einen Vergleich zwischen der hiesigen Aufführung und der vorjährigen in Cassel anstellen will, so kann derselbe sich nur auf die Ausführung der Vokalmusik hier beziehen, denn die alten Verhältnisse sind schuld, daß Guhr mit seiner Kapelle zurückbleibt. Aber soll ich es offen gestehen, so ist die Ausführung der Vokalmusik hier vollendeter, was von der ganzen Haltung des so zahlreichen Cäcilienvereins herrühren mag, nicht minder von den unausgesetzten Proben, welche unser Director Messer anstellt. Die Solopartien, nur von Dilettanten besetzt, gehen (von meiner abgesehen) ganz vortrefflich, vor Allem aber der Solochor. Es ist das eine mir neue Einrichtung, aber von unendlichem Effekte, namentlich die drei Choräle, die von ihm allein ohne alle Begleitung vorgetragen werden. Auch im ersten Chore tritt er ein, da ist mir die wunderbare Lieblichkeit desselben erst recht klar geworden: wenn ich Ihnen sage, daß der Choral im ersten Chore von etwa fünfzig Knäbchenstimmen der Musterschüler2 ausgeführt sind, so können Sie den Effect sicherlich begreifen. So bin ich ganz satisfait.
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen von dem vorigen Conzerte schon geschrieben, wo Händel’s prächtiger Salomo aufgeführt wurde, in welchem ich den Oberpriester übernommen. Ich weiß nicht, ob Sie bereits in Cassel das Werk kennen, bin aber überzeugt, daß Sie die größere Anzahl der Chöre mit einigen Abbreviaturen, so recht nach Ihrem Geschmack seyn würden.
Indeß ich vergesse ganz die Absicht des Briefes, so leicht ist’s, von einer ursprünglichen Idee ab – u auf Nebendinge zu kommen. Sie wissen ja aber, was ich meine u wünsche, Wenn Ihr Geburtstag ist: mögen Sie den Ihrigen, Ihren Freunden u der gesamten musikal. Welt noch lange, lange zu äußerer Freude u Stolze erhalten werden! Ist die vielbesprochene Eisenbahn erst fertig, so hoffe ich, fehle ich nie mehr bei der Feier des 5ten April in Ihrem Familienkreise, dessen Genuß ich für dießmal neidisch alle Übrigen mißgönnen könnte. Jedesmal wo ich in dem Fremdenblatte der Caßler Zeitung den Namen Amtsr. Lüder lese, seufze ich schwer nach jenen herrlichen Soireen, die Ihr Genius, mehr noch Ihre Freundlichkeit mir zu den schönsten Genüßen meines Lebens gestempelt hat. Nicht wieder macht mir jede Conzertanzeige für zwei Dinge vollkommen Mißmuth: ich pflege dann, hieher zu gehen u mich an einer Oper etwas wieder zu erhohlen, soweit das geschehen kann. Das Schlimmste ist, daß meine Abwesenheit von Cassel ein unverbesserliches Übel ist, da ich vor wie nach unter meinen jetzigen Verhältnissen nach Cassel zurückzukehren nicht wünschen kann.
Nun aber zum Schluß. Er soll noch eine Bitte enthalten. Wahrscheinlich ist Österley in C. Er hat mir vor wenig Tagen eine Einladung zugehen lassen, ihn für die Festtage in Gött.3 zu besuchen. Ich bin nicht im Stande, seinen Wunsch zu erfüllen, darum entschuldigen Sie mich einstweilen u vertrösten Sie ihn auf Johannis oder Weihnacht, wo ich eilen werde, mein Kind zu mir zu nehmen. Leider! ist das letztere noch fortwährend am rechten Bein leidend!!!4
Nun ein inniges Lebewohl, viele herzliche Grüße an Ihre liebe Frau, Kinder, Verwandte von

Ihrem
treuergebenen
Firnhaber

Frankf. 4ten April
1844.

Autor(en): Firnhaber, Carl Georg
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Firnhaber, Wilhelm
Guhr, Carl
Lueder, Christian Friedrich
Messer, Franz Joseph
Oesterley, Ferdinand
Erwähnte Kompositionen: Bach, Johann Sebastian : Matthäus-Passion
Händel, Georg Friedrich : Solomon
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Kassel
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844040448

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 19.11.1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 10.08.1845.

[1] „sich“ über der Zeile eingefügt.

[2] Schüler der Musterschule in Frankfurt am Main.

[3] Göttingen.

[4] Der verwitwte Firnhaber hatte seinen Sohn Wilhelm in Verden untergebracht (vgl. Firnhaber an Spohr, 08.03.1842). Zur Erkrankung des Beins vgl. Firnhaber an Spohr, 24.09.1843.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.12.2020).