Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 1t April 1844.

Ihr liebes Schreiben vom 29sten1 erfüllte mich bereits Vorgestern mit eben so großer Freude als herzlicher Dankverehrung! – Wollen noch einige nothwendige Erledigungen bis Morgen Abend sich expediren lassen: so treffe ich mit dem Mittwoch Morgen dort eintreffenden Goettinger Eilwagen ein. Muß für jene Expeditionen aber etwa solche Nacht noch zu Hülfe genommen werden, freylich erst mit Nachmittags doch eintreffender Rad-Post; aus welcher ich als dann sofort in die bereits begonnen habende Probe zur Kirche eilen würde.2
Wundern soll mich denn doch, ob der interessante Fidelio dieses Mahl auf dem Repertoir verbleibt! – oder ob wiederum eine resp. „ettisches oder inisches“ Lirum-Larum dem „Hörer-Pöbel“ aufgetischt werden soll3, statt jener geistvolleren Wahl! –
Der kleine August Kömpel bewährt sich in seinem längeren hiesigem Aufenthalte neben seinem höchst frappanten Talente als ein zugleich so liebenswürdiger, von Natur aus unbefangene gutgeratener Knabe, daß uns nichts mehr leid thut, als nicht in Cassel oder dessen unmittelbarer Nähe zu wohnen, um ihn für die Zeit des ihm von Ihrem hohen Edelmuthe zugedachten unentgeldlichem Unterrichtens, bey uns aufnehmen zu können!4 Ich wüßte mich nicht zu erinnern, jemahls einen Knaben gesehen zu haben, bey dem so viel liebenswürdige u zum Wohlwollen zwingende u fesselnde Eigenschaften sich vereinigten! – Und sollte dem redlichen Vater nicht gelingen, die erforderl. Unterstüztung des Knaben von dem doch sehr großartig kunstsinnigen Könige von Bayern bewilligt zu erlangen: so muß nothwendig auf dem Weg der Subscription die Benutzungs-Möglichkeit Ihres liebevollen Erbiethens gezeichnet werden! – und dafür ergeblich direct und indirect mit zu wirken, wird mir einen wahren Genuß gewähren! – Es macht mir das Herz bluthen, dann doch nicht in der Lage zu seyn, dessen Sicherung kurz u gut ganz dazu allein übernehmen zu dürfen! –
Ein mit vieler Mühe auf Morgen für ihn projectirt gewesenes Concert in Osterode, hat die Polizey in Betracht der Chor-Woche untersagt!!!! (Mit der verstehen denn Ihre Casselschen Gebiether herzlich besser fertig zu werden!! – wie Figura des dortigen Repertoire‘s das ergiebt!) – Ob er nun Heute oder Morgen über 8 Tage in Osterode, u den 3ten Tag darnach in Clausthal doch noch ein Concert giebt, oder ob er vor hier, mit noch einigen ihm zu schreibenden specielleren Empfehlungs-Wünschen,5 danach nach Nordhausen u Sondershausen reisen wird, darüber wird noch hin u her correspondirt! – Doch über alles das hoffentlich in Uebermorgen schon mündlich mehr, da der animeuse6 heutige Datum ja seine Tücke nicht mich empfinden lassen wird! –
Wenn auch noch so eilig, doch immer gleich herzlich u dankbar

Ihr innigster Verehrer
CFLueder.

Autor(en): Lueder, Christian Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Kömpel, August
Erwähnte Kompositionen: Beethoven, Ludwig van : Fidelio
Erwähnte Orte: Clausthal
Kassel
Katlenburg
Nordhausen
Osterode
Sondershausen
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844040135

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Lueder, 29.03.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrerspondenz ist Lueder an Spohr, 03.07.1844.

[1] Hier gestrichen: „brachte mir Vorgestern“.

[2] Zur Aufführung von Georg Friedrich Händels Der Messias vgl. O[tto] K[raushaar], „Cassel, im April 1844“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 321-324 und 333-337, hier Sp. 336f.

[3] Vermutlich handelt es sich bei „ettisches oder inisches“ um eine Sammelchriffre für die damals beliebten, im Spohrkreis aber abgelehnten italenischen Opern: (Doniz-)ettische sowie (Ross- und Bell-)inische (nach freundlichen, voneinander unabhängigen Hinweisen von Moritz Kelber und Maximilian Rosenthal). Eine fast identische Formulierung verwendete Anton Gröber in seinem Brief an Spohr vom 14.02.1844. Eine ähnliche Formulierung auch: „Und dennoch werden solche Machwerke von dem ,Hörpöbel‘, wie einer meiner Freunde das für die Compositeurs auf ini begeisterte Publikum nennt, mit Entzücken aufgenommen!“ („[Combi, bekannt durch seine Oper]“, in: Münchener Unterhaltungs-Blatt (1840), Sp. 279f., hier Sp. 280; ich danke Stefan Münnich für den Hinweis auf diese Stelle). Bereits Friedrich Wilhelm Marpurg eröffnete die erste Nummer seines Der Critische Musicus an der Spree: „[…] Die Ehrfurcht gegen die erlauchten Namen in ini und elli verlieret sich [...]“ (1 (1749), S. 1; ich danke Peter Wollny für den Hinweis auf diese Stelle).

[4] Zum Verhältnis zwischen August Kömpel und Christian Friedrich Lueder vgl. H[ans] M[ichael] Schletterer, „L. Spohrs Geige. Eine Erinnerung an den Meister zur bevorstehenden Enthüllung seines Denkmals“, in: Vom Fels zum Meer 2 (1883), S. 92-104, hier S. 101-104.

[5] Hier gestrichen: „von hier“.

[6]animös, leidenschaftlich, erbittert, feindselig“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 29).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (12.03.2021).