Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: „Briefe von Friedrich Kühmstedt“, in: Urania 51 (1894), S. 5f., 22, 30f., 38f., 45f., 61f. und 86f., hier S. 86f.

Sr Wohlgeboren
Hr. Kapellmeister Dr. L. Spohr
in
Cassel


Mein lieber, hochgeehrtester Herr Kapellmeister!

Daß ich zum 1ten März nicht in Cassel1 sein konnte, hat mir mein Leben dieser Tage daher ganz vergällt. Weniger zog mich – ich muß es aufrichtig gestehen – meine Symphonie dahin, als vielmehr die Sehnsucht: Sie, mein lieber Meister, zu sehen, zu sprechen, Ihnen zu danken für Ihre mehr als väterliche Theilnahme an mir; eine Theilnahme, die ich noch gar nicht verdient zu haben glaube, deren Grund ich daher nur in Ihrem eigenen Gemüthe finden kann, das nicht allein in künstlerischer, sondern auch in rein menschlicher Hinsicht hoch erhaben über alles Gewöhnliche dasteht. Doch den Gedanken weiter auszumalen gebührt mir nicht; Worte sind ohnedieß nur leere Klänge. Nur mein folgendes Leben kann und soll beweisen, daß ich tief empfinde, Sie, mein lieber Meister, sind der Genius meines Lebens. Denn was2 wäre ich ohne Sie geworden?! Selbst die Hoffnung hätte ich schwinden lassen müssen, mich jemals aus meinen gegenwärtigen Verhältnissen, welche nicht einmal das Nothdürftigste für den Körper, geschweige für den Geist bieten, zu befreien. Hatte ich doch wirklich schon den Muth verloren und ließ mich vom Strome des Schicksals dem geistigen Untergange zutreiben – da fiel Ihr Blick wie ein warmer Sonnenstrahl in mein Leben, und die gesunkenen Kräfte regten sich zu neuer Thätigkeit. Jetzt sehe ich wieder mit Muth in das Labyrinth des Lebens. Wie sollte ich nun mit solchem Bewußtsein nicht mit wahrhaft kindlicher Liebe und Hochachtung an Ihnen hangen und immer darauf bedacht sein, mich wenigstens Ihrer Theilnahme würdig zu machen! Doch das allein genügt meinem Gefühl nicht; gleichwol bin ich unvermögend Etwas zu thun, was Ihnen Freude machen könnte. Es war mir deßhalb um so schmerzlicher, am 1ten März nicht in Cassel sein u. Ihnen durch einen warmen Händedruck die Sprache meines Herzens empfinden lassen zu können. Doch werde ich es hier nicht lange mehr aushalten, so bald es möglich ist, komme ich; ich muß, muß Sie bald sehen. –
Meine Symphonie wäre also durch Ihre Güte glücklich vom Stapel gelaufen. Nach dem Briefe von Drescher hat sie theilweise gefallen, im Ganzen aber eine so recht durchgreifende Wirkung nicht hervorgebracht. Indessen kann, glaube ich, der Beifall des großen Publikums den Werth eines so complicirten Werkes, wie eine Symphonie überhaupt ist, nicht bestimmen. Hauptsache ist Ihr Urtheil, verehrtester Herr Kapellmeister. Dürfte ich mich daher wol unterstehen, Sie deßwegen um ein paar Zeilen zu bitten, aus denen ich ersehen könnte, ob vielleicht hie und da die Feile noch einmal anzulegen sei, oder ob dies jetzt nicht gerade absolut nothwendig, und das Werk in gegenwärtiger Form nach Leipzig geschickt werden kann? Letzteres wäre mir freilich lieber als Ersteres. Doch, was sein muß, geschehe. –
Der Himmel möge Ew. Wohlgeboren samt Ihrer lieben Familie gesund erhalten. Dies wünschend und mich Ihrem fernern Wohlwollen empfehlend bin ich mit unbegrenzter

Liebe und Hochachtung
Ihr
ewig ergebenster
F. Kühmstedt

Eisenach am 6ten März
1844

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Drescher, Emil
Erwähnte Kompositionen: Kühmstedt, Friedrich : Sinfonien, Nr. 2
Erwähnte Orte: Kassel
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844030640

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 15.02.1843. Spohrs Antwortbrief, dessen Postweg sich möglicherweise mit dem von Kühmstedt an Spohr, 12.03.1844 überschnitt, ist derzeit verschollen.

[1] Am 01.03.1844 führte Spohr Kühmstedts zweite Sinfonie im Kasseler Abonnementskonzert auf (vgl. dazu Spohr an Hauptmann, 03.04.1844; Otto Kraushaar, „Cassel, im April 1844”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 321-324 und 333-337, hier 323f.).

[2] „was“ am Rand der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (15.07.2020).