Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Vorlage: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einer Abschrift von Franz Uhlendorff
Druck: Michael Matter, Niels W. Gade und der „nordische Ton“. Ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall, Phil. Diss. Zürich 2012, S. 128f. (teilweise)

Cassel den 3ten März 1844.
 
Geehrter Freund,
 
Recht sehr muß ich um Entschuldigung bitten, daß ich die Sinfonie von Gade nicht sogleich zurückgeschickt habe; sie war mir aus den Augen gekommen und über andre Dinge, die mich in den letzten 14 Tagen sehr beschäftigten, hatte ich das Zurücksenden ganz und gar vergesen. Ich verspreche aber nicht wieder so saumselig zu seyn. - Die Sinfonie von Gade hat uns und unserm Concertpublikum sehr gefallen, mir besonders die 2 mittelsten Sätze. Den letzten wünschte ich anders und wäre ich an des Komponisten Stelle, ich schriebe einen neuen.1 - Sagen Sie ihm doch, wir freueten uns sehr auf seinen Besuch und bey der Gelegenheit vieleicht noch einiges andere von seiner Komposition kennen zu lernen. - Aloys Schmitt war hier und gab Concert. Er spielt sehr schön und kann mit alle den modernen Claviervirtuosen in die Schranken treten, wenn es auf Vortrag, Eleganz und Geschmack des Spiels ankommt. In der Fertigkeit mag er wohl nachstehen.2 Seine Kompositionen haben mir aber eben so wenig gefallen wollen wie früher, obgleich er meint, bedeutend fortgeschritten zu seyn. Die Sachen haben Form, sind gut instrumentirt, reich an Harmonie, aber arm an Gedanken und nicht aus dem Innern hervorgequollen und interessiren daher immer weniger, je öfter man sie hört. So ging es mir mit einer Sinfonie, die am Anfang seines Concerts gemacht wurde. Bey der ersten Probe gefiel sie mir, bey der zweiten weniger und bey der Aufführung fast gar nicht mehr; und dort war sie bei weitem das Beste, was wir von ihm hörten. - Die Kühmstedt’sche Sinfonie wurde im letzten Concert gemacht und gefiel den Musikkennern trotz ihrer großen Länge. Das 1ste Allegro und das Scherzo sind sehr schön, auch das Adagio hat sehr schöne Einzelheiten, nur der letzte Satz gefällt mir nicht. Alles ist aber um die Hälfte zu lang und würde sehr durch geschickte Abkürzung gewinnen, die ich ihm anrathen werde, bevor er sie nach Leipzig schickt.
Leider konnte Kühmstedt nicht hieher kommen, um die Sinfonie zu hören, da seine Schwiegermutter lebensgefährlich krank ist. Es geht dem armen Menschen in allem hinderlich! - Im letzten unsrer Concerte wird eine neue Sinfonie von Hesse und die Ouvertüre von Staehle gemacht werden.3 Die Sinfonie hat mir beym Durchlesen sehr gefallen und scheint mir reicher und eigenthümlicher in der Erfindung wie die frühern. Unser Publikum nimmt immer größeres Interesse an den Sinfonien und im letzten Concert wagte ich sogar 2 zu machen, außer der Kühmstedt’schen4 noch meine 2te in D.5
Im Paquet, auf der rechten Seite der Partitur, liegen 7 Rthlr. Kassenscheine, womit ich die Rechnung für die Walpurgisnacht zu bezahlen bitte. - Da Sie das Hiller’sche Oratorium für unsern Verein empfehlen, wo wünschte ich zu wissen, ob es im Clavierauszuge gestochen und wo es zu bekommen ist?
Von meiner Oper habe ich nun auch den 2ten Akt fertig und werde ihn heute mit unsern Dilettanten zum ersten Mal singen. Instrumentirt ist aber erst die Hälfte des ersten Akts.
Herr Weinrich läßt Sie herzlich grüßen und erinnert an unsre Bitte, uns die Partituren, die Ihnen gehörten, für den Cäcilienverein dort abschreiben zu lassen. Auch bittet er die Stimmen Ihrer Messe dem ersten Paquet, was Sie mir senden, gefälligst beylegen zu wollen.
Unter herzlichen Grüßen an Ihre liebe Frau ganz
 
der Ihrige
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Hauptmann an Spohr, 16.02.1844. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 13.02.1845.
 
[1] Otto Kraushaar kam zur Aufführung im 4. Abonnementkonzert am 07.02.1844 zu einer anderen Bewertung als Spohr: „Dem zweiten und dem vierten Satz des Werkes geben wir vor den übrigen Sätzen desselben den Vorzug” („Cassel, im April 1844”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 321-324 und 333-337, hier Sp. 322).
 
[2] Vgl. ebd., Sp. 335.
 
[3] Vgl. ebd., Sp. 333f.
 
[4] Kraushaar kam zu Kühmstedts Sinfonie zu einem deutlich negativeren Urteil (ebd., Sp. 323f.).
 
[5] Vgl. ebd., Sp. 322f.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.12.2016).