Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 18ff.

Leipzig, den 16. Febr. 1844.
 
Alles was sich von einer Musik sagen und schreiben läßt, kann uns doch keine Idee davon geben, wie auch Lob und Tadel in musikalischen Dingen erst Bedeutung gewinnt, wenn wir den Lobenden und Tadelnden kennen, der Beschreibung entzieht sich aber das eigentlich Musikalische meist ganz. Ich glaube nicht daß X.1 ohne Talent ist; aber von so instinktartiger Energie, daß es sich ohne die ihm noch ganz fehlende Bildung entschieden äußern könnte, ist es doch nicht. Ich glaube daß dann auch die ersten Versuche schon zulässige Musikstücke werden müssen, denen ein gewisser Formsinn nicht fehlen darf; das ist aber an seinen Versuchen nicht wahrzunehmen. X. versteht es aber nicht wenn man ihn auf das Fehlerhafte aufmerksam macht. Es ist aber eigen wie es der musikalischen Jugend jetziger Zeit an diesem Sinne so oft fehlt, daß er ganz besonders anerzogen werden muß. Sie haben hundert Sonaten und Quartette gehört und gespielt, es fehlt ihnen nicht an musikalischen Phrasen und doch wissen sie nicht einen erträglichen kleinsten ersten Theil eines solchen Musikstückes zu Stande zu bringen ohne zusetzende, abschneidende und zurechtrückende Hülfe. Bei Manchen bedarf es dieser nur bei den ersten Versuchen, und das ist schon, wenn sie etwas von Idee, und nicht blos eine Schablone dadurch gewonnen haben, ein gutes Zeichen. Gute zweite Theile sind aber jetzt etwas so Seltenes, daß von den Schülern, die in modernen Vorbildern so wenig Musterhaftes vor Augen haben, noch weniger zu erwarten sein wird. In früherer Zeit, vor Beethoven, waren ganz mittelmäßige Talente in Form und Führung einer Composition viel sicherer als es später und gegenwärtig sehr bedeutende sind — wie im vorigen Jahrhundert ein Schulmeister und Organist bessere Fugen machte, als jetzt mancher Kapellmeister. Das ist der Charakter und Formalismus der Zeit und wir dürfen das Verdienst wohl dem Individuum nicht zu hoch anrechnen. So ist auch in der Rococo-Zeit in der Architektur und in anderen Künsten viel formales Geschick anzuerkennen, das sich um so leichter ausbilden konnte, als es nur mit conventionel hergebrachtem Inhalte, nicht mit selbstempfundener poetischer Production zu schaffen hatte, denn es ist, wie Goethe sagt, leicht sprechen wenn man nichts zu sagen hat.2 Wenn nun einer kommt der wieder frisch fühlt und frisch Gefühltes auszusprechen hat, so wird es leicht, da hier die poetische Habe, nicht das Talent der Bildung vorwaltend sein muß, von der Seite der Kunst allein betrachtet nicht so bestimmt und abgerundet geschehen wie bei einem viel durchgesprochenen Inhalte, zu welchem der Ausdruck überall schon da ist. Diese Ungebundenheit, die doch nur ein Mangel an künstlerischer Vermittelung und noch eine Unfreiheit ist, scheint den unbegabten Nachahmern der Fortschritt, eine Befreiung zu sein, es sagt ihnen gut zu, sich gesetzlos gehen lassen zu dürfen, „Wie Gott will" ihrer Inspiration zu folgen und damit alle möglichen unzusammenhängenden Sonderbarkeiten zu Tage zu bringen, die sie nur wollen, von denen der liebe Gott so wenig will, als er Aepfel und Nüsse auf demselben Baume wachsen läßt. Wer nur irgend etwas producirt hat, in irgend einer Kunstart, wird sich sagen können, daß die guten und günstigen Stunden solche waren wo der Ausdruck zu dem was man sagen wollte sich am einfachsten ungesucht fand und zu einem Ganzen fügte, nicht wo einem absonderliche Dinge einfallen, die eben nur Einfälle sind und sich zur Idee verhalten wie Zufälle zur vernünftigen Nothwendigkeit. —

Autor(en): Hauptmann, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Beethoven, Ludwig van
Goethe, Johann Wolfgang von
Staehle, Hugo
Erwähnte Kompositionen: Hiller, Ferdinand : Das zerstörte Jerusalem
Mendelssohn-Bartholdy, Felix : Die erste Walpurgisnacht
Staehle, Hugo : Ouvertüren, B.1.a.1
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1844021633

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 02.02.1844. Spohr beantwortete diesen Brief am 03.03.1844.
Aus Spohrs Antwortbrief geht hervor, dass Hauptmann vermutlich in den im Druck fehlenden Passagen dieses Briefs die Gebühren von 7 Reichstaler für eine Aufführung von Felix Mendelssohn Bartholdys Walpurgisnacht nennt. Außerdem empfiehlt er Ferdinand Hillers Oratorium Das zerstörte Jerusalem zur Aufführung für den Kasseler Cäcilienverein.
 
[1] Aus Spohrs Vorbrief folgt, dass es sich beim von Hauptmann als X. bezeichneten Komponisten um Hugo Staehle handelt.
 
[2] Zitat noch nicht ermittelt; bei Goethe bisher nur gefunden: „Jemehr von Jugend auf das Gefühl bei mir wuchs, daß man schweigen solle wenn man nichts zu sagen hat [...]” (Johann Wolfgang von Goethe, Goethe's nachgelassene Werke, Bd. 9, Stuttgart und Tübingen 1833, S. 156). Hauptmann verwendet es ebenfalls mit Autorenangabe Goethe in seinem Brief an Otto Jahn, 16.12.1855 (in: „Musikalische Briefe von Moritz Hauptmann”, in: Grenzboten 29.2 (1870), S. 81-99, hier S. 82). Möglicherweise schrieb er aber auch ein Zitat von Lichtenberg falsch zu: „Es ist keine Kunst etwas kurz zu sagen, wenn man etwas zu sagen hat, wie Tacitus. Allein wenn man nichts zu sagen hat, und schreibt dennoch ein Buch, und macht gleichsam die Wahrheit selbst mit ihrem ex nihilo sit zur Lügnerin, das heiße ich Verdienst” (Georg Christoph Lichtenberg's vermischte Schriften, nach dessen Tode gesammelt und herausgegeben, hrsg. v. Ludw[ig] Christ[ian] Lichtenberg und Friedr[ich] Kries], Bd. 1 (= Meisterwerke deutscher Dichter und Prosaisten 23), Wien 1817, S. 256).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.12.2016).