Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Wohlgeboren
Herrn Doctor & Hof-Capellmeister Spohr
in
Cassel.

frey.


Hamburg, d. 6sten Jan. 1844.

Lieber, innig verehrter Herr Doctor!

Länger kann ich es unmöglich aussetzen, mich nach so langer Zeit einmal wieder schriftlich mit Ihnen zu unterhalten. Nehmen Sie und Ihre liebe Familie zunächst von uns Allen die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahre. Möge es dem lieben Gott gefallen, Sie Ihrer theuren Familie, Ihren zahlreichen Freunden und Verehrern, so wie der musikalischen Welt als ihre Hauptstütze, deren die arme, jetzt so vielfältig und arg gemißhandelte Kunst wohl selten benöthigter war, noch recht lange in bisheriger Kraft, Thätigkeit und Würde zu erhalten! – Von dem hiesigen Musikgetriebe ist leider! jetzt im Ganzen wenig Erfreuliches zu melden. Von eigentlicher Kirchen-Musik ist bekanntlich, seit meines Vaters1 Tode, fast gar nicht mehr die Rede, wenigstens ist (und bleibt auch wohl vor der Hand,) die Stelle an den Kirchen pp. noch immer unbesetzt. Die Behörden sind hier (wie unbegreiflicher Weise fast überall,) in Betreff kirchlicher Angelegenheiten, besonders der Kirchen-Musik, des Choralgesanges pp. so entsetzlich lau, dabei nimmt das Pfaffen-Unwesen, zumal das der Mystiker, hier so arg zu, (die scandalösen Historien jagen sich einander dermaßen, daß sogar in den öffentlichen Blättern, z.B. in der Bergad.(???) Zeitung, kräftige Rügen deshalb erscheinen,) daß es wahrlich nicht zu verwundern wäre, wenn dereinst alle unsre großen Kirchen ganz leer und unbenutzt stehen bleiben! – Unser Grund, der ja ein tüchtiger und unser bester Musiker hier ist, fängt bedenklich an zu kränkeln, und ist (auch schon in früherer Zeit,) offenbar durch das leidige, zu viele Stundengeben, zu mürbe und matt geworden, um kräftig genug – wie er es doch bei seiner Stellung pp. am besten thun könnte, – dem elenden, verächtlichen Getriebe so mancher „Musikanten“, so wie dem heillosen Unwesen so mancher anmaßenden, aristokratischen Dilettanten entgegen zu wirken. Überhaupt aber wird Grund (und wohl nicht ganz ohne Grund,) Mangel an Energie, so wie zu große Aristokraten-Verehrung pp. häufig vorgeworfen. – Im Stadt-Theater, welches ich (aus folgenden Ursachen) nur sehr selten besuche, werden in der Regel nur die neumodischen, flauen Opern, die älteren und besseren Werke aber entweder nur selten oder auch so verunstaltet (durch verkehrtes Zeitmaaß, Auslassen der vorzüglicheren Stücke, oder heilloses Einflicken der elendesten Machwerke, wie z.B. in Mehul's Joseph pp.) gegeben, daß von wahrem, reinem Kunstgenuß gar nicht die Rede seyn kann. Mit dem Schauspiel pp. soll es, nach dem Urtheil Sachkundiger, nicht viel besser stehn, obgleich unter den Mitgliedern desselben sich manche gute Subjekte befinden. Aber die allgemeine und immer lauter werdende Klage trifft ganz besonders das gemeine, habsüchtige Benehmen der Direction. – Daß der unruhige Projektmacher Schuberth mit dem famosen Ole Bull nach Amerika gereist seyn soll2, haben Sie vielleicht schon erfahren. Aus dem, von ihm (S.) gestifteten „Norddeutschen Musikverein“ wäre ich gern schon wieder ausgetreten, (denn die Collegenschaft, so wie das Benehmen der Hn. K.3 & M.4 sind mir zu unerfreulicher Art,) hielte mich nicht Ihre, lieber Herr Doctor, und Grunds Theilnahme noch davon zurück! – Worin, nach meiner Ansicht, in jetziger Zeit eine Haupt-Ursache der Kunst-Leiden liegt, das ist das greuliche Journalisten5-Unwesen, das gewissenlose Treiben dieser elenden Scribenten ist in Wahrheit oft empörend! Tagediebe; verdorbene, mißrathene, faule Studenten; frech-insolente Isrealiten; bankrottirte, betrügerische Ladenhüter; Menschen, die in der Regel kaum die Noten kennen, aus solchem unnützen Gesindel besteht hier zum Theil das Heer der, sich zu Recensenten aufwerfenden, ignoranten Kririkasten und Sudler. Die Folgen eines solchen, in so vieler Hinsicht betrübenden Zustandes liegen dann auch klar genug vor! Warum aber unsre Behörden noch immer auch diesem Unfuge (wie so manchem Andern) nicht im Mindesten steuern, ist doch wahrlich unbegreiflich! – Hört man doch sogar nicht selten die Meinung äußern: Der große Brand6 sey eine natürliche Folge des oft so kraftlosen, nachlässigen und unerklärbaren Benehmens der Behörden. Belege, in Betreff einiger Kirchen-Angelegenheiten, kann auch ich dazu liefern. Da die Orgel in der Waisenhaus-Kirche, wo seit dem Brande der Gottesdienst für die Nikolai-Gemeinde gehalten wird, nothwendig einer Reparatur bedarf, die Behörden hier aber – in der Regel – und jetzt besonders, kein Geld zu Orgel-Reperaturen geben mögen, so erbot ich mich, zu diesem Zweck ein Kirchen-Concert zu geben. Mein Anerbieten wurde aber kurz – ohne Dank! – abgelehnt! – Eine ganz ähnliche Erfahrung machte ich schon vor mehren Jahren, als das kleine freundliche Frankenhausen (wo ich 1815 das, mir unvergeßliche Musikfest mitmachte,) fast gänzlich abgebrannt war, und ich ein ähnliches Anerbieten den Herren Kranichfeld & Dr. Kraft, welche in den Zeitungen zu Unterstützungen aufforderten7, zum Besten der Abgebrannten machte. Auch dieses Anerbieten wurde in derselben empörenden Pöbel-Manier abgewiesen! Ein Benehmen, was um so auffallender erscheint, da die beiden, schon früher hier von mir zu ähnlichen Zwecken veranstalteten Concerte (1817 in der Petri-Kirche, und 1827 im Apollosaal für meine Geschwister,) sehr zahlreich besucht waren. Das letzte Concert brachte über 1600 Fl.; die netto-Einnahme betrug über 1200 Fl. – Als ich vor einigen Jahren dann dem reichen Dr. M...k, welcher öffentlich um Almosen für Nothleidende bat, deshalb mehre Ex. meiner Arbeiten nebst einem Schreiben übersandte, erhielt ich den Packen – aufgerissen, nicht wieder zugesiegelt und ohne Antwort! – wieder zurück! – Ein reicher, aber auch als insolent bekannter Kaufmann Ref. … ,(reiche Handelsleute sind bekanntlich selten Meister der Humanität,) dem ich kürzlich eine kleine Summe für auswärts abgebrannte baar übergeben ließ, hat ebenfalls weder gedankt noch Bescheid mir zukommen lassen! – Den famosen List8 habe ich 3mal, (zur Zeit des, zum Theil recht albernen und traurigen Musikfestes9,) in der sog. Festhalle, im Apollosaal und auf seinem Zimmer gehört; aber – Ihnen muß ich es aufrichtig gestehen, – der vergötterte Mann hat mir alle 3male total mißfallen. Ich vermißte – bei seinen, allerdings enormen technischen Fertigkeiten, – nicht allein gänzlich gediegenen Vortrag, Geschmack, die Seele der Kunst; sondern seine plumpe Effektjagerey, das Pauken, Trommeln, Zerren des Taktes pp. wurde oft so arg und unausstehlich, daß ich Mühe hatte, die Äußerungen des Unwillens zurück zu halten. – Fr. Sr.10 (aus Dessau,) der sich hier in der Woche nach dem „Musikfest“ auf unserer herrlichen Michaelis-Orgel (privatim) hören ließ, hat dabei seine Zuhörer so arg gelangweilt und gepeinigt, daß die meisten während des Spiels wieder fortgingen. Eine ganze Stunde hörte ich und meine Begleitung dieses greuliche Toben mit an; da aber brach auch mir, wie so vielen Anderen, die Geduld, und in ganzen Schaaren strömten – besonders die zarten Damen, – wieder aus der unnatürlich-drückenden Orgel-Atmosphäre in die milde, erquickende, freie Natur, um sich ihres beruhigenden, sanfteren Genusses zu erfreuen. Sr. soll über 1½ Stunden unaufhörlich auf der vollen, starken Orgel, ohne Pausen, ohne auch nur einmal mit sanften Stimmen abzuwechseln, in freier, wilder, unordentlicher Phantasie herum getobt haben! Überhaupt muß ich gestehn, daß es mir nicht recht klar ist, wodurch Sr. eigentlich seinen gewaltigen Künstler-Ruf sich erworben. Hier in H. hat ihn zunächst sein ehemaliger Schüler O.11, ein heftiger Gegner Grund's, und wahrscheinlich eben als solcher – auf allerlei Weise! – Anhang zu verschaffen gesucht, was O. um so leichter ward, da er – durch seine Frau12 mit einer angesehenen Familie verwandt ist! – Häufig ist es mir auch schon aufgefallen, was doch solch heil- und endloses Orgeltoben mit vollem Werke, wie es jetzt so viele berühmte und berüchtigte Herren sich erlauben, nur bedeuten soll? Eben so wenig kann ich dem übertrieben langen Fugenspiel, besonders mit voller Orgel, bei öffentlichen Concerten, beim Gottesdienst pp. Geschmack abgewinnen. Der größere Theil des Publikums hat doch nun einmal für solche „Kunststücke“ keinen Sinn, und wird auch schwerlich jemals Gefallen daran finden. Und die Musiker? Die meisten gewiß eben so wenig! Denn es ist meine feste Überzeugung: Daß Niemand in Wahrheit klaren, reinen Genuß durch den Vortrag solcher langen Fugen, als z.B. der meisten Bach'schen – NB. mit voller Orgel gespielt, – haben kann. Auch bestätigen meine bisherigen Erfahrungen diese Meinung nur zu sehr, indem alle meine Bekannte, (Musiker und Dilettanten,) die ich bisher deshalb auf ihr Gewissen befragte, ohne Weiteres meiner Ansicht beistimmten. Überaus würde es mich erfreun, vor Allem auch Ihre Meinung, als die des viel erfahrenen, unbefangenen und denkenden Meisters, über diesen Gegenstand zu erfahren. – Mein Bruder Carl hat die Ehre gehabt, eine seiner Sinfonien im vorigen Winter, im Conservatorium zu Paris aufführen zu hören. Vor drei Jahren war er 6 Wochen in Constantinopel! Jetzt lebt er wieder in Finnland. Er ist ein talentvoller Componist, aber ein arg hypochondrischer Sonderling! – Unser überaus hartes Schicksal durch den großen Brand werden Sie erfahren haben. Alle meine reichen Original-Handschrift-Sammlungen; Briefe; (worunter auch die Ihrigen, mir so besonders werthen, nun bereits seit 33 Jahren gesammelten;) die vielen seltenen Partituren; eine sehr reiche und vollständige Choralsammlung, in den besten Ausgaben, mit vielen Anmerkungen, Verbesserungen, Kritiken pp. versehen; eine werthvolle Bibliothek; meine kostbaren Instrumente pp.; mehre Seltenheiten und Andenken aus dem Nachlaß meines Vaters pp., Alles, Alles ist in wenig Stunden von den Flammen zerstört! Das furchtbare Unglück überfiel uns so plötzlich, so durchaus unerwartet, daß wir grade in dem Augenblick, als schon der Thurm brannte, uns an den Mittagstisch gesetzt hatten! Unser Mittag ist – mit verbrannt! – Mein Sohn13 und einer meiner Schüler14, die beide seit mehren Jahren (hauptsächlich im Winter,) öfters für mich in der Kirche spielten, haben einige wenige Manuskripte nebst einigen, anderen Kleinigkeiten gerettet. – Da mir bei dem Brande auch meine Handschrift des Adagio in a-Dur, für Violine, wovon ich Ihnen bei Ihrem letzten Besuche15 hier in H. eine Copie (meines Sohnes) überreichte, mit verloren ging, so erlauben Sie mir die Bitte, mir die Partitur gefälligst auf einige Zeit gelegentlich zukommen zu lassen. – Aber ich sehe zu meinem Schrecken, daß mein langes Schreiben fast nichts als Klag- und Jammerlieder enthält, und daß ich Ihnen also nur düstere moll-Phantasien mitgetheilt habe. Einem alten, arg gequälten Hypochondristen werden Sie das gütigst nachsehen. Ihre, mir so oft bewiesene, gütige Theilnahme läßt mich auch diesmal auf freundliche Nachsicht hoffen. „Wo das Herz voll ist, pp.“ und hier habe ich fast Niemand, der mich versteht, oder dem ich mein Leid klagen und meine Empfindungen mittheilen mögte! – Ein Freund, dem ich (schon früher) Einiges aus dem vorliegenden Schreiben mittheilte, meinte: ich sollte doch dem jetzigen Redacteur der allg. musik. Zeitung (Hauptmann?)16 Etwas davon mittheilen. Ich befasse mich nun zwar nicht gern mit dergleichen öffentlichen Mittheilungen; sollten Sie aber dazu rathen, oder geneigt seyn, die Sache zu vermitteln oder einzuleiten, so mögte ich einmal eine Ausnahme machen. –
Um recht herzliche Grüße von uns Allen Ihrer lieben Familie und um Ihr ferneres, freundliches Wohlwollen bittet

Ihr getreuer Freund
J. F. Schwenke



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schwencke an Spohr, 22.11.1841. Spohr beantwortete diesen Brief am 13.05.1844.

[1] Christian Friedrich Gottlieb Schwencke.

[2] Vgl. Einar Haugen und Camilla Cai, Ole Bull: Norway's Romantic Musician and Cosmopolitan Patriot, Madison, Wis 1993, S. 79; A.C. Magruder, Maryland Reports. Containing Cases Adjudged in the Court of Appeals of that state, Band 2, S. 54; Wiener allgemeine Musikzeitung 5 (1845), S. 57.

[3] Karl August Krebs (vgl. Vorbrief).

[4] Eduard Marxsen (vgl. ebd.).

[5] Ein zweites "l" in dem Wort gestrichen.

[6] Der Hamburger Brand oder Große Brand zerstörte vom 05. bis 08.05.1842 große Teile der Hamburger Altstadt.

[7] Noch nicht ermittelt.

[8] Vgl. Michael Saffle, Liszt in Germany, 1840-1845. A Study in Sources, Documents, and the History of Reception (= Franz Liszt Studies Series 2), Stuyvesant 1994, S. 107).

[9] Zum dritten norddeutschen Musikfest in Hamburg 02.-08.07.1841 vgl. „Das dritte nordteutsche Musikfest“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 43 (1841), Sp. 656f.

[10] Friedrich Schneider.

[11] Georg Dietrich Otten.

[12] Octavia Maria Otten (zur Familie vgl. F[riedrich] Georg Buek, Die Hamburgischen Oberalten, ihre bürgerliche Wirksamkeit und ihre Familien, Hamburg 1857, S. 377).

[13] Friedrich Gottlieb Schwencke.

[14] Nicht ermittelt.

[15] Anfang Juli 1840 (vgl. Schwencke an Spohr, 14.08.1840).

[16] Moritz Hauptmann war tatsächlich von 1843 bis 1846 Redakteur der Allgemeinen musikalischen Zeitung.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (06.12.2018).