Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Goettingen am 16ten December 1843.

Wenn gleich mein innigst verehrtester Gönner! Gasthaus-Schreibzeug, das doppelt schlecht gelingen lassen wird: so kann ich doch nicht von hier gehen, ohne Ihnen über des Rudolph Willmers überraschendes Spiel zu schreiben! –
Er meint, Ihnen bekannt geworden zu seyn als 13jähriger Knabe, wo sein Vater ihn Ihnen präsentierte, u Sie ihm eine Thema zum Fantasiren aufgaben, nach deren Beendigung Sie ihm ein Schreiben1 an Hummel mitgaben, bey dem er dann 3 Jahre blieb! – Und damit würde Ihr Antheil an der Beschützung dieses Genius vor den Abwegen des 19ten Jahrhunderts namentlich auch der Pianisten, gewis groß! –
Es ist das erste Mahl, daß ich soviel Bravour mit dieser in jedem Augenblicke grazieus u gesangreich bleibenden Zügelung u ganzen Behandlung des Instrumentes vereint nun endlich angetroffen habe; u daher war meine Ueberraschung Gestern Abend bey Rittmüller groß! – Denn Hummel, Dusseck, Moscheles, Himmel, – alle diese größesten Pianisten des rein edleren Spiels habe ich leider nie gehört. – [Mendelssohn war mir in Braunschweig nicht kräftig genug. Dieses mag an den dasigen schlechten Piano ’s gelegen haben.]2
Spiel u Composition des Willmers bleibt in dem höchsten Bravour-Momenten edel, u stets gesangreich; das Gemüth noch mehr angreifend, als die Bewunderung; welche Liszt bey aller Großartigkeit dieses Genres mir doch zu hervorstechechend verfolgte. – Mein Bruder, Oesterley, Rittmüller, und ich, waren hier bald einig darüber, daß wir Willmers3 mit mehr eigentlichem Kunst-Genuße hören, denn Liszt! – weit mehr von jenem ergriffen u entzückt wurden, als von diesem; wenn gleich dieser in der Mechanik des Spiels einstweilen jenen noch überflügeln mag. –
Seine Compositions-Genialität scheint mir schon aus der Einfachheit seiner Thema’s hervorzugehen. – Unter anderm spielte er Gestern Abend bey Rittmüller, eine Etüde4, die wir alle für großen Volk-Jubel-Ruf hielten u empfanden; er sagte dann, er habe sich den Triumph-Einzug eines römischen Imperators dabey gedacht. Die Melodie dieses Triumph-Marsches bewegt sich in 4 neben einander liegenden Tönen, – was ihm selbst erst aufzufallen schien, da ich dieses zu bemerken mir erlaubte, indem er nachzählte; diese höchst einfache Melodie ist von Anfang bis5 zu Ende in irgend einer Stimmlage bey dem begleitenden enomem Harpeggiensturme pp so zu sagen ohne Ende, 6 einfach deutlich durchdringend, u bey dieser Einfachheit so ergreifend, daß wir alle sie nicht mit stets wachsendem Vergnügen hörten; – öfter wiederholt, von Zeit zu Zeit. –
Von dem anliegendem Concert-Programm ergreift uns alle der „Sommer-Tag in Norwegen“ – diesen Morgen in der Probe über alle Maaßen! – (Das Concert habe ich noch vor mir)
Die Serenade für die linke Hand ist verdruckt eroica, soll heißen erotica; – u dieser Lebenshauch ist auch in vollem Maße über sie ausgegossen. Doch ziehe ich das weit weniger schwierige „freudvoll u leidvoll“ für die linke Hand allein7 noch vor, welches wir als Beylage der Hamburger Blätter8 im v. J. mit erhielten, als zuerst von diesem9 ächten Kunstjünger in jenen Blättern die Rede war.
Da ist kein dreyschocksches Kunststückchen für die linke Hand, sondern unter seinem Vortrag, den wir diesen Morgen verbrachten der rührendste Gesang den uns 2 Hände auf dem Piano mögten hervorrufen können! – so daß man die rechte Hand buchstäblich auch gar nicht vermißt. –

Sonntag Morgen.
In seinem vollen Glanze haben wir Willmers allerdings nun erst im Concerte gehört; wie wohl vorzügl. das Beethovensche Concert unter Liszts Fingern ungleich pikanter war. Willmers sagte aber vom Anfang an, daß er es wenig kenne, u nie zum öffentlichen Vortrage gespielt habe. Er wurde aber gleichsam forcirt es hier bey scheuslichem Orchestern zu spielen, was auch wie Klang-Klumpen an ihm hing! – Unverwüstl.(???) schön war es aber dennoch. Willmers spielt dergl. Sachen nicht seiner eigenen Compositionen ohne auch die Aenderung nur einer Note sich zu erlauben; während man seine eigenen gar schönen Compositionen fast jedes mahl mit kleinen Veränderungen der Inspirationen des Augenblicks von ihm hört.
Die Tarantella furiosa ist wirklich furios, u durch edel10 wenn man das national irische Dudelsack-Thema abrechnet; auch die Doppelfantasie zum Schlusse ergab solche Bravour-Momente, wie ich sie fast von Liszt nicht gehört habe. Beyde Bravour-Soli, jene Tarantella u diese Doppelfantasie, spielte er auf einem Rittmüller [mit] deutschem Mechanismus, weil er die enormen Passagen auf dem andern englischen Mechanismus zu angreifend fand. Da der Ton dieses deutschen Mechanismus gegen den andern an sich wie eine Guitarre gegen ein Violoncello war: so bezeichnet schon diese Wahl für die größeren Schwierigkeiten wohl, daß Liszt zur Zeit ihm in der Mechanik des Spiels noch überlegen ist. – Aber ich höre ihn eine Stunde lieber, mit mehr innerem Genusse, als Liszt 3 Tage! – Uebrigens entlockte er in jener Fantasie auch dem alten Mechanismus in den zahrteren Momenten, die m Ganzen doch vorherrschend blieben, Effecte u Töne, die wahrhaft bezaubernd waren, u eben so neu u ungewohnt!! –
Ein Beweis unerhörter Ausdauer war, daß er Gestern Abend in einer Soirée nach dem Concerte bey Graf Wintzingerode ganz unaufgefordert gegen Mitternacht noch wieder an das vorzüglich schöne Rittmüllersche Instrument mit englischem Mechanismus gerith, u über eine Stunde lang alle Anwesende von neuem electrisirte! – Er wollte mit einer freyen Fantasie schließen; man wünschte Beethovensche Symphonie-Themata, u eine Stimme rief, „so die Eroica!“ Mit einiger Verwunderung u Ueberraschung rief er zurück mit etwas ironischem Toon: „die Eroica!! – ja! die enthält gar schöne Dinge!!“ – u nun arrangirte er sich für diese Zumutung auf jene oft Schrecken erregende Weise à la Liszt!, – indem,11 nach gleich furioserm Einsatze des Thema’s der Eroica, seine Improvisation sich ab u an zu wirklicher Wuth u Verzweyflung steigerte; u Griffe in allen Stimmlagen dazwischen herum warf, von denen ich gestehe, daß ich ihnen nicht immer zu folgen vermogte, so schreyend deutlich sie an sich auch waren! Fuer mich etwas sehr à la Beethoven in dessen aller letzter Epoche! Oesterley aber, der solchen wilden Disharmonien geläufiger mag folgen können, denn mein inneres(???) Gehör, war12 voller Bewunderung über die Großartigkeit, Kühnheit, u Vortrefflichkeit13 namentlich auch der Modulations-Versetzungen; die in gar vielen leichteren Momenten allerdings auch mich entzückten.14 Willmers selbst aber schein so gefesselt zu werden von der aufgeregtesten Inspiration, daß er sicher eine volle halbe Stunde darinn sich immer noch zu steigern schien; u wenigstens Graf Wintzigerode mögte für sein Piano wohl nicht zum 2ten Mahle: „die Eroica“ gern ruhen hören! – Erst war beschlossen, daß Willmers dienstags hier ein 2tes Concert gebe; in diesem Falle würde vielleicht zu erreichen gewesen seyn, dem genialen jungen Mann auch an die Stufen Ihres Parnasses, vielleicht freytags, treten zu lassen; da er bis Sonnabend über seine Zeit disponiren konnte.
Es traten aber für Dienstag unübersteigl. Hindernissen in den Weg, u es schwankt nun noch zwischen Mittwoch u Donnerstag. Einstimmig aber haben wir gebethen, dann das schauderhafte hiesige Orchester wegzulassen! – Rittmüller, der sich Ihnen mit inniger Verehrung empfiehlt, wird Ihnen den Tag noch anzeigen; da vielleicht einer oder der andere Ihrer musikalischen Freunde u Kunstjünger gern eine Notiz darüber erhält. –
Gar gern hätte ich Ihnen, wie Ihren näheren Freunden, u vor allem auch Ihrer theuren Frau Gemahlin u Frau von Malsburg, diesen Genuß doch dort zugeführt! – Auf meine Frage ist Willmers Zeiteintheilung folgende. Nach hiesigem 2ten Concert muß er zurück nach Hamburg, wo er eben schon 2 Concerte gab; u er muß bis 1st Januar in Hamburg bleiben. Dann ist er zum Spiele(???) bey Hofe in Hannover engagirt von wo er über Braunschweig nach Berlin, Breslau, Leipzig, 15 (auf das gerade hier anwesenden jungen Wehners dringende Bestärkung(???)) geht, um über Dresden thunlichst früh in Wien einzutreffen; – das Hauptziel der Winter-Reise.
Er meinte nun, daß er in der ersten oder 2ten Woche des Januar den Umweg von Hannover über Cassel nach Braunschweig mit dem höchsten eigenen geistigen Interesse machen würde, wenn es für jetzt auf eine vernünftige Weise mit seinem Reise-Zwecke sich vereinigen lasse, wonach er aber für jetzt solchen Umweg u Aufenthalt sich nicht erlauben dürfe, wenn er nicht werde auf die Einnahme von 2-300 Rth. eines dort zu gebenden Concertes mit einiger Zuversicht nehmen könne; worüber er zunächst an Ihre Sach- u Local-Kenntiß appeliere; seine tausendfältigen Huldigungen Ihnen, wie ich mich dessen hindurch entledige, vor allem16 mit größter Innigkeit ausdrückend!
Vielleicht geneigen Sie, mir Ihre localkundige Ansicht darüber mit ein Paar Worten zu sagen; wenn Sie gleich darüber mit sich einig wären, allenfalls hieher adressirt, bey17 Hrn W. Rittmüller abzugeben; da ich zum Concert wieder hieher komme; sonst auch später; wo18 ihm dann nach Hamburg unter Schuberts-Adresse, nach Hannover unter Marschners Adresse, würde von mir oder nach Wahl u Umständen direct Nachricht gegeben werden könne. – Auch ich wäre sehr dabey interessirt ihn ein Mahl mit Ihrem Orchester zu hören. Machen Sie dort davon ab: so werde ich suchen, ihn in Braunschweig zu treffen, wo jetzt auch ein Paar der großen Rittmüller’s sind. –
Verzeihen Sie, den offenbar für Ihre kostbare Zeit zu lang gerathenen Bericht! – Mit tiefster Innigkeit

Ihr dankbarster Verehrer
CFLueder.

Fräulein Pauline Pfeiffer19 sahe ich Gestern 20 Abend auch fröhlich u wohl bey Graf Wintzingerode.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 31.05.1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 01.02.1844.

[1] Dieser Empfehlungsbrief ist derzeit verschollen.

[2] Ausdruck in Klammern am unteren Seitenrand eingefügt.

[3] Hier zwei Buchstaben gestrichen.

[4] Vermutlich Pompa di festa.

[5] „bis“ über der Zeile eingefügt.

[6] Hier gestrichen: „– u“.

[7] Hier zwei Wörter gestrichen („bey [???]“).

[8] Vermutlich in Blätter für Musik und Literatur; noch nicht ermittelt.

[9] „diesem“ über der Zeile eingefügt.

[10] „edel“ über gestrichenem Wort eingefügt.

[11] Hier gestrichen: „er“.

[12] Hier gestrichen: „voll“.

[13] Hier gestrichen: „der“.

[14] Hier ein Buchstabe gestrichen.

[15] Hier drei Buchstaben gestrichen.

[16] Hier gestrichen: „zu“.

[17] Hier gestrichen: „Ri“.

[18] Hier gestrichen: „ich“.

[19] Später verheiratete Wehner.

[20] Hier gestrichen: „Ihre“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (21.05.2021).