Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Firnhaber:10
Lieber Herr Capellmeister!
Meine letzte kurze abschlägliche Antwort auf Ihre liebfreundliche Einladung zum Philologencongresse liegt mir noch immer schwer in den Gliedern. Nicht daß es mich reute, dort gefehlt zu haben – höchstens, daß ich nicht in den Ihnen dargebrachten Dank habe einstimmen können! – sondern, daß ich nicht Ihrer Einladung folgen konnte, da sie mich wieder auf einige Tage in den Genuß aller Liebenswürdigkeiten Ihres Grußes gesetzt haben würden. Sehen Sie es deßhalb für ein Bedürfniß meines Geistes an, wenn ich mich anschicke, Ihnen einige Plaudereien zuzusenden, mit denen ich mein Andenken bey Ihnen auffrischen will.
Freilich soll man sich zurichten(?), nach Cassel zu schreiben, so viele Schadensbotschaften von Haderfällen(?), Eisenbahnen(???), Ungnade und dergl. schallen hieher herüber. Daß auch mein Freund Zaun1 wieder von der Seite der kurfürstl. Armee zur großen Garde abmarschirt ist, thut mir um seine Familie recht weh, denn ihm wird wohl seyn. Aber ich will nicht durch derartige Erinnerungen u ihrem Anfange mir gleich die frohe Laune nehmen, darum hin zu froherem.
Da will ich Ihnen sagen, daß ich – dank Speyers Bemühungen -2 Ehrenmitglied des Frankf. Cäcilienvereins geworden bin u derweils mehrfach mich dort gelabt habe. Wie ist die Einseitigkeit, an der diese Schelblesche Stiftung leidet, ganz erwünscht, weil sie meine musikal. Kenntniß gerade da erweitert, wo ich fühlbare Lücken hatte. Der jetzige Director Messer ist ein mir zusagendes Männchen, der mit großer Umsicht u Lust die Proben leitet u sehr genau zu Werke geht. So muß ich die erste Aufführung (das 25j. Stiftungsfest) für sehr gelungen erklären u ich bekenne, daß ich nie schönere Pianos gehört habe. Das Repertoire war gut, mir deßhalb nur ungenügend, weil es nichts von Ihnen enthält. Der Schelblesche Trauergesang eröffnete die Sitzung, dann folgten Chöre aus dem Messias, aus dem Cherubinischen Requiem das colossale Dies irae, Chöre aus dem Davide penitente, aus Haydns Schöpfung, aus dem Paulus, u endlich die achtstimmige Motette von Bach „fürchte dich nicht“. Daß ich überall mitsang, können Sie sich denken, ich goutire nun einmal so die Musik weit besser aber freylich hatte mich bei dem letzten u bei den Chören aus der Beethovenschen Messe meine sonstige Kraftfertigkeit(?) in Ruhe gelassen. Ich muß wieder in die Übung kommen u werde es, da ich alle 14 Tage hinreisen werde zur Versammlung u sonst bey(?) Freund Speyer manches Neue höre.
An jenem ersten Abend hatte ich ein Solo erst nach dem Conzerte, wo ein Essen die Sänger verzückte(???). Aufgefordert, ein Quartett vorzuschlagen, mußte es natürlich eins von Ihnen seyn: dem Schnee dem Regen! Und wie wurde das gesungen! Zweimal mußte es da capo gehen! Ich hatte ja Ihr Tempo im Kopfe u Sie im Sinne, da hätte ich noch eine Octave höher prästiren3 können, u der Beifall wäre mir nicht versagt. Im nächsten Conzerte singe ich eine Arie aus einer von Mendelssohn geschickten Bachschen Motette – aus Gmoll – weiß ich doch augenblicklich nur das Thema [Nbs.]
darauf freue ich mich wie ein Kind. Den Evangelisten4 habe ich ebenfalls bereits übernommen, weil man gar kein Hehl daraus macht, daß man mich gebrauchen könne, u ich denke, wenn Sie mich haben gebrauchen können, so werden’s die Frankfurter längst.
Interessirt hat mich, daß Sie die Antigone zur Aufführung in musikal. Beziehung gebracht. Das ist freilich, wie Sie das durch die Umstände mußten, nur halbes Werk. Die Tragödie gehört auf die Bühne. Dreimal habe ich sie bereits in Frankf. gehört, u morgen zum vierten Male. Ich bin dadurch aufs Höchste aufgeregt worden. Sie können etwas davon lesen, wenn Sie die dramaturgischen Briefe5 im Beibl. der Oberpostamtszeitung eines Anblicks würdigen, zu deren Abfassung mich meine Frankf. Freunde zwangen. Möglich, daß ich in einem folgenden Briefe auch meine Urtheile über die Musik mittheile, die in einem meiner Auffassung vielfach feindlichen Sinne componirt ist. Ich kann mich nicht weiter darüber auslassen, nur soviel, daß sich der Componist zu viel von dem berühmten Berliner Böckh hat zuflüstern lassen.6 Wäre ich noch in Cassel, ich bewöge Sie, an die Composition der Iphigenie auf Aulis zu gehen, die ich herausgegeben. Wie würde ich da stolz seyn, Ihnen einmal mit Rath an die Hand zu gehen.
Ich habe auch eine Übersetzung der Antigone fertig, zu welcher mich Donner gebracht, denn seine Übersetzung gibt wahrlich nicht die Anschauung eines Kunstwerks, nur viel Torso. Sollten Sr Hoheit die Apathie überwinden u die Antig. auf Ihrem Theater noch zur Aufführung kommen, so möchte ich meine Übersetzung als Werk(???) Ihrer Regie anbieten, versteht sich unentgeldlich. Meine litterar. u nichtlitterar. Freunde versichern mich wenigstes(?), daß sie besser sey u daß sie dem Originale entsprechender ist, ohne der Muttersprache Gewalt anzuthun, dafür bürge ich mit Allem, was ich habe. Bolzmann (Kreon) so gut wie die Antigone würde, glaube ich, mir Dank wissen, wie’s Bairon im franzs. thut. Dieß beiläufig, überlegen Sie ’s einmal vorkommenden Falle’s.
Auch Ihren Faust habe ich schon zweimal neulich in Frankf. aufführen sehen, jedesmal mit drückend vollem Hause. Das erste Mal mit Speyer gemeinschaftlich, der ihn doch noch besser auswendig wußte als ich. Leider! sang nur Faust u Röschen mir nach Wunsch (Pischek u die Capitain), während die tremolirenden u italienischen Verballhornisirungen des Hugo7 u des ersten Soprans8 mich aufbrachten. Wie stehen Sie mir in Ihrer ganzen Individualität so ganz vor Augen, wenn ich solch einen Genuß habe. Ich lechze dann nur immer noch mehr u dennoch muß ich bis zu nächstem Jahre meinen Heißhunger ertragen.
Doch genug der Plauderei, ich schließe. Aber das Eine erlauben Sie mir noch zu wiederhohlen, daß Ihre Freundschaft mich sehr glücklich macht, ich deßhalb um Ihre stete Bewahrung dringend bitte. Mit herzlichen Grüßen für Ihre liebe Frau u Tochter u Schwägerin u Alle Ihres lieben Kreises
Ihr
aufrichtig ergebener
CGFirnhaber
Hanau den 19ten IXber 1843.
In Frankfurt quält eines Ihrer Räthsel die Leute gewaltig. Wüßte ich’s nur noch, aber ich konnt’s auch nicht verrathen, was freilich nicht viel sagen will.
Autor(en): | Firnhaber, Carl Georg |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Böckh, August Capitain-Anschütz, Elise Chrudimsky, Ferdinand Donner, Jacob Christian Messer, Franz Joseph Pischek, Johann Baptist Rudersdorf, Hermine Speyer, Wilhelm Zaun, Justus Heinrich |
Erwähnte Kompositionen: | Bach, Johann Sebastian : Fürchte dich nicht, BWV 228 Bach, Johann Sebastian : Matthäus-Passion Cherubini, Luigi : Requiems, Nr. 1 Haydn, Joseph : Die Schöpfung Händel, Georg Friedrich : Messiah Mendelssohn Bartholdy, Felix : Antigone Mendelssohn Bartholdy, Felix : Paulus Mozart, Wolfgang Amadeus : Davide penitente Spohr, Louis : Faust Spohr, Louis : Lieder, Ten 1 2 Bass 1 2, op. 44 |
Erwähnte Orte: | Frankfurt am Main |
Erwähnte Institutionen: | Cäcilienverein <Frankfurt am Main> Stadttheater <Frankfurt am Main> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843111948 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 24.09.1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 04.04.1844.
[1] Möglicherweise Justus Heinrich Zaun, „Repositar-Gehülfe bei der Regierung“ (vgl. Casselschaes Adress-Buch (1843), S. 266)?
[2] Hier gestrichen: „das(?)“.
[3] „prästiren, leisten, abtragen, berichtigen“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 370).
[4] Sicherlich in der Matthäuspassion.
[5] Carl Georg Firnhaber, „Dramaturgische Briefe über die Aufführungen der Sophokleischen Antigone, namentlich auf der Frankfurter Bühne“, in: Frankfurter Konversationsblatt (1843), S. 1198f., 1202f., 1210f., 1222f., 1226ff., 1230f., 1234f. und 1238f.
[6] Felix Mendelssohn Barholdy komponierte seine Schauspielmusik eigentlich zur Übersetzung von Jacob Christian Donner, griff aber zum Teil auch auf die Bearbeitung von August Böckh zurück (vgl. Susanne Boetius, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 74-83).
[7] Ferdinand Chrudimsky (vgl. „Frankfurter Theater“, in: Didaskalia 17.10.1843, nicht paginiert).
[8] Hermine Rudersdorf in der Rolle der Kunigunde (vgl. ebd.).
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (01.12.2020).