Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: „Musikalische Briefe von Moritz Hauptmann. III. an Spohr“, in: Grenzboten 29.2 (1870), S. 177-190, hier S. 188ff.

Leipzig, den 23. Oktober 1843.
 
Lieber Herr Capellmeister!
 
… Für Ihren lieben Brief über die englische Reise muß ich Ihnen nochmals danken, er hat uns viel Vergnügen gemacht, des Inhaltes und der Schilderung wegen. — Den letzten Satz der Beethoven'schen d-moll Symphonie kann ich auch nicht leiden, das Chorgekreisch und auch die ungeschickt und so gesangwidrig geschriebenen Solostellen sind mir ganz zuwider, sie wurden das letzte Mal, daß ich sie hier hörte, recht gut herausgebracht, das ist aber auch alles, was den besten Sängern und dem besten Chore dabei gelingen kann, denn an eigentliches Singen ist hier nicht zu denken. Der erste Satz dieser Symphonie ist mir der liebste. Herr Schindler, der vor einiger Zeit in Leipzig war1, hatte mehrere Beethoven'sche Skizzenbücher mit, das eine davon soll fast angefüllt sein mit Entwürfen zu dem Anfang dieser Symphonie; wie ich auch ein Blatt hatte, worauf Beethoven Clärchen's Lied „die Trommel gerührt" zu Egmont entworfen, das heißt vielerlei Anfänge und einzelne Stellen zu dem Liede mit fast unleserlichen Noten und Schwänzen darauf zusammengebracht hatte. Bei dem Anfange, wie wir ihn jetzt kennen, hatte er mit fingerlangen Buchstaben dazu geschrieben: „questo è il migliore -" Es kommt nun freilich nichts darauf an, wie Einer etwas zu Stande bringt, wenn er es gut zu Stande bringt; so finde ich eben jenes Liedchen sehr hübsch und charakteristisch, nur freilich nicht für Clärchen im Stück zu singen, so wenig als „freudvoll und leidvoll". Dies letztere höre ich überhaupt von der Oboe im Zwischenakt viel lieber als von der Sängerin. Ich kann es nicht mißbilligen, daß Tieck es vorzog, die Schauspielerin irgend eine andere Melodie, von Reichardt oder einem Andern anstatt der Beethovenschen Composition singen zu lassen.2 So gern ich sonst seine Musik zum Egmont habe, so finde Ich eben diese Lieder nicht in dem Styl, den die Sache erfordert, vor allen viel zu abhängig vom Orchester, das hier so viel als möglich unbemerkbar sein müßte, das „freudvoll und leidvoll" überdies noch ziemlich unsingbar; konnte es doch kaum die Kister leidlich herausbringen in seiner ungeschickt hohen Lage. Von Herrn Sch. kann ich nicht viel mehr sagen, als daß er uns durch große Redeseligkeit und Selbstgefälligkeit im Reden viel seckirt hat. Er ließ sich bei mir in der Schule eine Bach'sche Motette singen und hat dem Chor darauf zugesprochen und ihm guten Rath ertheilt. als wenn seine Worte Gott weiß wie golden wären.
Mendelssohn bleibt nur bis zum 20. November hier, um dann ganz nach Berlin zu ziehen. Er geht ungern, und es ist ihm vom König von Sachsen, der ihn persönlich sehr gern hat, ein gleicher Gehalt wie sein Berliner, 3000 Thlr. angeboten worden, wenn er in Sachsen bleiben wollte. — Die Umstände müssen es nicht zugelassen haben, es anzunehmen. Ich habe aus der Auction von Polenz, die einen Catalog von 3000 Nummern hat, viel für meine Kirchenmusik erstanden, unter anderen zwei Messen von Cherubini. welche, namentlich die 4te in C-dur, von großer Schönheit sind. Ich freue mich darauf, sie aufzuführen. Der hiesige Gottesdienst läßt nicht allein Meßcompositionen zu, der Ritus verlangt selbst an Festtagen, gegen 12mal jährlich, die Messe in ihrer Bedeutung, zwar nur Kyrie und Gloria ich bringe aber dann die übrigen Sätze als Hymnen nach. Im Durchschnitt genommen muß sich auch unsere Kirche an die katholische Musik halten, die protestantischen Cantorenproductionen sind zu prosaischer Natur. Das kann man zwar von denen Bachs, der auch ein protestantischer Cantor war, nicht sagen, aber hier stößt es sich wieder an die der unsrigen gar zu entfernte Orchesterbehandlung, und es ist schwer, unter vielem an sich recht Schönen etwas Praktikables aufzufinden.
R. Schumann, der sehr fleißig componirt, hat jetzt eine Cantate in drei Theilen nach Lala Roock3 „die Peri und das Paradies", meist mit den Worten des Gedichts geschrieben und wird sie im November aufführen. Ich habe eine Probe mit kleinem Chor und Quartett gehört, es scheint alles recht blühend und frisch. Wie das Ganze sich ausnehmen wird, weiß ich noch nicht, es hängt alles ohne Unterbrechung zusammen, nicht mit Recitativ und metrischen Musikstücken, sondern fast ohne Sonderung von bestimmten Theilen. Wie ich denn überhaupt diese moderne, romantische Musik oder wie man sie nennen will, mehr pflanzenartiger Natur finde und den Eindruck, den so etwas macht, mehr einem landschaftlich unbestimmt Bestimmten vergleichen möchte, gegen den der Mozart'schen und was in diesen Kreis (den italienischen) gehört, die durch charakteristisch sehr verschiedene, in ihren Formen aber organisch bestimmte Gestalten höherer Ordnung und festen Gesetzes zu uns spricht. Man könnte beide Arten auch gothischer und griechischer Architektur vergleichen; die erstere läßt auch wie der Baum Auswüchse zu, die bei der letzteren, wie beim menschlichen Körper, nur als Ueberbeine erscheinen würden, dort aber gar nicht störend sind. —
M. Hauptmann.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 06.10.1843. Der nächste erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr bis 30.11.1843.
 
[1] Vgl. „Hr. MD. Schindler”, in: Neue Zeitschrift für Musik 19 (1843), S. 92.
 
[2] Noch nicht ermittelt.
 
[3] Die literarische Vorlage zu diesem Oratorium (vgl. Thomas Moore, Lalla Rookh (= The Works of Thomas Moore 1), Paris 1823).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.12.2016).