Autograf: Stadtmuseum Kassel
Druck: Autographen. Auktion am 20. und 21. Februar 1979 (= Kat. Stargardt 617), Marburg 1979, S. 257 (teilweise)
[Beleg?: Autographs, Broadsides & Association Books of Great Historical Interest & Value […] (= Kat. Anderson 2065), New York 1926, S. 7]

Cassel den 20sten
Sept. 1843.

Hochverehrtester Freund,

Nach meiner Rückkehr aus England fand ich unter vielen andern, größtentheils Geschäftsbriefen auch Ihr überaus freundliches Schreiben, das mir ganz besondere Freude gewährte, da es mich von Ihrem Wohlergehen und Ihren fortdauernden freundschaftlichen Gesinnungen für mich unterrichtet. Da Madame Schön, die es mir während meiner Abwesenheit überbracht hatte, wieder abgereiset war, so hat sich die Beantwortung freilich länger verzögert1 als ich verantworten kann und ich muß deshalb um gütige Nachsicht bitten.
Daß Sie noch immer so lebhaften Antheil an der Kunst nehmen und daß sich Ihr ausgezeichnetes Musiktalent nun auch auf Ihr Fräulein Tochter1a fortgeerbt hat, habe ich mit besonderer Freude gelesen. Gern würde ich nun Ihren Wunsch, im Bezug auf Harfenmusik erfüllen, aber leider besitze ich gar nichts mehr davon, da ich vor einigen Jahren sämtliche, von meiner seeligen Frau2 hinterlassene Harfenmusik meiner Nichte3 in Braunschweig die sich mit großem Eifer und günstigem Erfolg dem Instrumente gewidmet hat, geschenkt habe. Drei Duetten für Harfe und Violine aus der früheren Periode sind vor mehren Jahren in Hamburg bei Schuberth gestochen worden; doch glaube ich, sie werden für jetzt für Ihr Frl. Tochter noch zu schwer seyn. Doch werde ich bey erster Gelegenheit, die sich mir darbiethet, das Vergnügen haben, Ihrer Frl. Tochter ein Exemplar davon zu übersenden.
So wie Sie, habe auch ich mich durch das herannahende Alter nicht abschrecken lassen, fleißig in meiner Kunst fortzuarbeiten. Freilich lag sie mir als Beruf auch näher und es bleibt bey Ihnen daher verdienstlicher. Nicht nur habe ich bis jetzt in jedem Jahr mehre zum Theil große Werke geschrieben, sondern auch das Geigen fleißig fortgeübt, ja ich bin, obgleich ich die eigentlichen Kunstreisen als Geiger schon seit 25 Jahren eingestellt habe, doch noch dann und wann öffentlich aufgetreten, so bey dem Musikfest vor 4 Jahren in Norwich, wo ich mein neues Concertino „Sonst und jetzt“ spielte4 und nun auch wieder in London zwei Mal zuerst in der Philharmonischen Gesellschaft5 und dann in einem Conzerte, welches veranstaltet wurde, weil mich die Königin zu hören wünschte und wo ich die Ehre hatte, ihr vorgestellt zu werden.6 Außerdem habe ich fast täglich in Privatgesellschaften gespielt, so daß ich einmal wieder recht in Zug kam. In allen diesen Gesellschaften wurden fast nur Kompositionen von mir gegeben und ich war sehr überrascht zu sehen, daß nicht nur meine Instrumentalkompositionen sämtlich dort bekannt sind und häufig gegeben werden, sondern daß auch meine Opern, ja selbst der größte Theil der Lieder mit englischem Text dort erschienen sind und öffentlich und privatim fleißig gesungen werden. Auch meine Oratorien existieren sämtlich in englischen Ausgaben. Das neueste Der Fall Babylons wurde zweimal, von mir dirigirt, gegeben das erste Mal in Hannoversquare7, das zweite Mal mit einem Personal von fast 500 Mitwirkenden in der majestätischen Exeter-Hall, wo ein Publikum von mehr als 3.000 Menschen versammelt war. Diese Aufführung war das großartigste, was ich je erlebt habe und wird mir unvergeßlich seyn.8
Der Präsident9 der Gesellschaft überreichte mir beym Schluß in Gegenwart des jubelnden Publikums eine colossale, reich verzierte silberne Tafel mit Inschrift als Andenken an diesen schönen Tag. Überhaupt war die Aufnahme, die mir zu Theil wurde, die glänzendste die je ein Künstler in London gefunden hat und ich erlag fast bey diesen fatiganten Auszeichnungen, denn die meisten bestanden nach englischer Weise in Fest-Diners mit endlosen Essen, Trinken, Reden und Musizieren. So gaben mir die Londoner Künstler ein Festdiner in Greenwich, bey welchem auch alle die berühmten, während der Saison anwesenden fremden Künstler gegenwärtig waren.10 So wurde ich zu 4 Festdiner's11 der musikalischen Gesellschaften in London, deren eine vom König von Hannover12, eine andere vom Herzog von Cambridge13 präsidirt wurden, eingeladen und mit einer Rede und mit einem Toast beehrt. Es war daher die höchste Zeit, daß wir nach vierzehn Tagen solchen Schwärmens eine Ausflucht in's Land machten, auf welcher ich mich wieder ein wenig erholen konnte.14 Hier sahen wir in dem kurzen Zeitraum von 8 Tagen viel herrliches und merkwürdiges des schönen Landes und kehrten dann noch auf einige Tage nach London zurück, bevor wir die Rückreise über Belgien und den Rhein hinauf antraten.
Mit der Bitte, meine Frau und mich den lieben Ihrigen angelegentlichst zu empfehlen, verbleibe ich stets mit den Gefühlen wahrer Hochachtung und Freundschaft ganz

der Ihrige
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Reibnitz an Spohr, 16.03.1843.

[1] Spohr war am 30.07.1843 nach Kassel zurückgekehrt (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 30.07.1843).

[1a] [Ergänzung 21.01.2022:] Helena von Reibnitz.

[2] Dorette Spohr.

[3] Rosalie Spohr.

[4] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 17.09.1839.

[5] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 03.07.1843.

[6] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 10.07.1843.

[7] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 07.07.1843.

[8] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 21.07.1843.

[9] John Newman Harrison (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 21.07.1843; Eighth annual report of the Sacred Harmonic Society, London 1841, S. 3). 

[10] ,Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 04.07.1843; „Spohr”, in: Literary Gazette (1843), S. 468f.; [Charlotte Moscheles], Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, Bd. 2, Leipzig 1873, S. 103.

[11] Außer dem gerade erwähnten in Greenwich und den beiden im Folgenden aufgeführten ein Diner bei George Smart (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 06.07.1843).

[12] Diner des Noblemen and Genlemen ’s Catch Club (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 27.06.1843).

[13] Diner des Melodist’s Club (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 29.06.1843).

[14] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 12.-18.07.1843.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (03.07.2020). Adressat nach Vorbrief ergänzt (21.01.2022).