Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England 1843
Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 2.2.01, Bl. 25r-26v

Freitag d. 21st.

Am heutigen Tage, als dem letzten in England, stürmten die mannichfaltigsten Eindrücke und Gefühle so mächtig auf mich ein, daß ich selbst nicht wußte, wie mir eigentlich zum Muth war, und keinen Augenblick aus dem Zustand tief innerlicher Bewegung heraus kam. – Spohr ward mit zahlreichen Besuchen, Zuschriften, Bitten um Handschrift, Sendungen von Musikalien und dgl. m., dergestalt bestürmt, daß wir uns kaum hindurch zu arbeiten wußten, doch aber mit Taylors recht herzlich darüber lachten. Während er die Generalprobe zum Fall Bab. dirigierte, beschäftigte ich mich mit Einpacken, Beantwortung einiger seiner Briefe u.s.w. – Abends die himmlische Aufführung v. „Fall Babylons“ in Exeter hall,1 die unserm entzückenden Aufenthalt in England noch die schönste Krone aufsetzte.2 Schon der Eintritt in die ungeheure, von mehr als 3000 Menschen überfüllte Halle machte einen überwältigenden Eindruck, und wir fürchteten, nicht durch das Gedränge zu kommen. Doch kaum hatten Taylors in die unbekannte Menge hinein die Bemerkung geworfen, daß ich Spohrs Frau sei, so fanden sich genug bereitwillige Helfer, die zwei der Direktoren herbeiriefen, welche unsere ganze Gesellschaft sicher hindurch auf einen erhöhten Balcon führten, der für Mad. Spohr and friends reserviert war. Als Spohr auf seinem Platz erschien, erhob sich das ganze Publikum und Orchester, warfen mit Tüchern und Hüten, und schrieen laut jubelnd durcheinander: Hail, Hurrah, Bravo, und dgl., bis ein feierlicher Accord auf der himmlischen Orgel, und Spohrs erhobener Dirigentenstab in einem Moment die tiefste Ruhe und Stille hervorzauberte. Die ganze Aufführung ging vortrefflich, und klang himmlisch in den großartigen Räumen. Besonders zu bewundern der eben so ausdrucksvolle Vortrag der Chöre, vom zartesten piano bis zum überwältigendsten forte, das an manchen Kraftstellen eine Wirkung hervorbrachte, als ob alle Völker der Welt zusammen wären und in der schönsten Harmonie ihre Stimmen zur Anbetung Gottes ertönen zu lassen. 3 Arien und Männerchor auf stürmisches Verlangen da capo. Staudigl als Cyrus, und Miss Birch als Jüdinn, wundervoll. Taylors, Fr. v. Malsb. und unsere ganze Gesellschaft theilten den allgemeinen Enthusiasmus und waren tief ergriffen. AmSchluß beispielloser Jubel, Alles stieg auf die Bänke, klatschte, wehte, und schrie wie unsinnig, bis Spohr sich durch Händedrücken, Gratulieren u.s.w. endlich glücklich hinausgearbeitet, worauf eine lange Pause folgte, während der Alle auf den Plätzen blieben, und nur ein geheimnisvolles Flüstern zu vernehmen war. Dann erhob sich von Neuem ein ungeheuerer Lärm und Rufen nach Spohr, den die Masse durchaus nochmals sehen und reden hören wollte. Er sagte einen kurzen aber herzlichen, deutschen Dank, der jubelnd aufgenommen ward, und wonach der Präsident des Vereins, Mr. Harrison hervortrat, mit sichtbarer Rührung eine lange englische Anrede hielt, und ihm dann eine große, silberne Schüssel zum Andenken überreichte, worauf wieder unendlicher Applaus folgte. –
Als wir endlich zu Spohr in d. Garderobezimmer gelangt waren, fanden wir ihn da umringt von Scharen dankender, gratulierender und verehrender Herren und Damen, die ihren Enthusiasmus uns auf alle Weise an den Tag legten, und nicht eher von Spohr ließen, bis sie ihn noch an den Wagen begleitet, und den Schlag hinter ihm zugemacht hatten. So endete dieser unvergeßliche himmlische letzte Abend in England, ein Haupt-Glanzpunkt meines Lebens.

Autor(en): Spohr, Marianne
Adressat(en):
Erwähnte Personen: Birch, Charlotte
Harrison, John Newman
Malsburg, Caroline von der
Staudigl, Joseph
Taylor, Edward
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Der Fall Babylons
Erwähnte Orte: London
Erwähnte Institutionen: Sacred Harmonic Society <London>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843072190

Spohr



Dieser Tagebucheintrag folgt auf den Eintrag 20.07.1843. Der nächste Eintrag ist 22.07.1843.

[1] Spielstätte der Sacred Harmonic Society.

[2] Vgl. Spohr an Adolph Hesse, 28.08.1843; Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 280.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (29.05.2020).