Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England 1843
Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 2.2.01, Bl. 22v-24r

Dienstag d. 18ten

Den ganzen Vormittag widmeten wir der Besichtigung der so unendlich interessanten, einzigen Stadt, die durch und durch Universität ist. Ihre zahlreichen großartig alterthümlichen Collegiengebäude erstrecken sich über alle Hauptstraßen und geben denselben ein höchst originelles Aussehen. Vier dieser ungeheuren Colleges besahen wir auch im Innern mit ihren Kirchen, Sälen, wundervollen Bibliotheken und fanden alles bewunderungswerth. Unter anderem entzückte mich eine prachtvolle Sammlung von allen existierenden Marmorarten, die allerliebsten Modelle aller berühmten alten Gebäude in Rom und Griechenland, ferner die berühmten großen Marmorstatuen u.s.w.; an allen diesen Collegien aber ganz vorzüglich die himmlisch schönen grünen Rasenplätze, Spaziergänge, anstoßenden wonnigen Parks, wo einer voll von allerliebsten Hirschen und Rehen, die wir ganz nahe und zusammen sahen, auf grünem Rasen lustwandelnd. In Magdalens College kam ein junger sehr freundlicher Herr in den Hof heruntergerannt, der sich als der Sohn des Präsidenten ankündigte, und, da sie Spohr glaubten erkannt zu haben, kam, um ihn nebst seiner Gesellschaft zum Essen einzuladen, wofür wir indessen danken mußten, dagegen aber ein englisches Frühstück in einem der großartigen Säle uns gefallen und wohlschmecken ließen. Nachdem er hierbei auf alle Weise seine Verehrung für Spohr zu erkennen gegeben, mußten wir scheiden, wobei er sich nochmals mit großer Herzlichkeit aussprach. Auf unserem weiteren Weg unterhielten wir uns mit H. Taylor noch viel über dies abermalige amüsante Abentheuer, und die unerhörte Zuvorkommenheit der Engländer gegen Spohr.
Wir gingen außer der Stadt bis zu einer schönen Brücke mit herrlicher Aussicht in die Gegend und auf die Stadt. Interessant war uns auch die eigenthümliche fremdartige Tracht aller Professoren und Studenten mit langen Talaren, großen viereckigen Kappen u.s.w. Bei einem Musikladen (Marshall) vorbeigehend, wo Spohr einen Augenblick stehen blieb, trat Taylor schnell hinein und nannte seinen Namen, worauf der Besitzer nebst Sohn in größter Freude herausstürzte ihn hinein und in ihr Wohnzimmer nöthigte und dann die ganze Familie zusammen riefen um ihr gerührt und freudig „den großen herrlichen Spohr“ zu zeigen. Sie konnten freilich nur englisch sprechen, gaben ihm aber ihre Liebe und Verehrung hinlänglich durch Blicke und Händedrücken sowie auch durch Worte an Tayl. und mich gerichtet, zu erkennen
½ 4 bis 5 wieder im Omnibus nach Steventon, wo dann in demselben Augenblick der Eisenbahnzug nach London abging. Nicht ohne Wehmut und Thränen setzte ich mich zum letztenmal in einen reizenden englischen Eisenbahnwagen im Bewußtsein, diese unvergleichliche entzückende Fahrt zum letztenmal – wahrscheinlich für immer – zu machen und überhaupt im Gedenken an das Ende dieser idealisch schönen Reise! Gegen ½ 8 kamen wir unter starkem Regen bei London an, bewunderten noch einmal die wundervolle Einrichtung mit den ungeheuern bedeckten Gängen auf jeder Station, wodurch man bei jedem Wetter trocken und ruhig in und aus den Wagen kommen kann, setzten uns in eines der zu hunderten anfahrenden Cabs und kamen so in einer Stunde vor der alten Wohnung in James Street an. Obgleich wir erst morgen früh erwartet und Taylors deshalb noch nicht von Hamstead zurück waren, empfing uns doch die Hauswirthinn, Miss Pink, mit großer Herzlichkeit und wir richteten uns gleich wieder gemüthlich häuslich ein.

Autor(en): Spohr, Marianne
Adressat(en):
Erwähnte Personen: Pink (Miss)
Taylor, Edward
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: London
Oxford
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843071890

Spohr



Dieser Tagebucheintrag folgt auf den Eintrag 17.07.1843. Der nächste Eintrag ist 19.07.1843.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (29.05.2020).