Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England 1843
Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 2.2.01, Bl. 5v-6v

Mittwoch d. 28sten
 
Morgens früh mit der ganzen Familie und Nora T. nach Windsor, zuerst in 2 Chaisen bis zur Eisenbahn, wo wir unterwegs wieder die endlose Großartigkeit Londons nach einer anderen Richtung bewunderten. Dann auf der Eisenbahn eine Stunde bis Slough entzückende Fahrt, sanft, schnell und leicht wie durch die Lüfte fliegend, mit dem Blick in die reizendste Gegend mit steter Abwechslung von Landhäusern, Gärten, herrlichen Wiesen u.s.w. Interessant auch d. elektrische Telegraph, und vorzüglich dann die Ansicht des alterthümlich schönen Eton College, dessen Schüler wir mit Turnübungen und dgl. auf einem einzig schönen großen Spielplatz beschäftigt sahen. Von Slough mit dem Omnibus bis in die liebliche Stadt Windsor, wo wir zuerst zu einem Freund Taylor’s, Mr. French1 gingen, der ein ganz reizendes Häuschen, so klein wie ich noch keines sah, bewohnt, davor ein ebenso nettes Blumengärtchen (wie bei jedem dieser ganzen Reihe Häuschen) und das Innere des Hauses nutzend eingerichtet. Bei seiner Kleinheit: alle Zimmerchen, Gängchen und Treppchen mit schönen Teppichen, Lüstern, Blumen und alllerlei Niedlichkeiten geschmückt. Er selbst, sehr herzlich, lebendig und beglückt, Spohr bei sich zu sehen, zeigte uns alle möglichen hübschen Raritäten und Sammlungen und obendrein auch eine ganze Bibliothek dieser Bände voll berühmter Handschriften1a und dgl. Nachdem er uns mit einem eleganten Frühstück bewirthet, traten wir unter seiner Leitung unseren großen Weg an zuerst nach dem Park, bei dessen unermeßlicher Ausdehnung wir jedoch nur einzelnes besichtigen konnten, z. B. die Herne‘s Oak2, die durch Shakspeare in „Merry Wives of Windsor“ verewigt ist – die schöne, ganz endlos scheinende Allee, an deren Schluß die große Bronze-Statue von George III zu Pferd3, einen herrlichen Anblick gewährt. Himmlisch prachtvoll aber über alle Beschreibung erschien uns das riesenhafte Schloß selbst in seiner einzig alterthümlichen Bauart groß und weit sich über die Gegend erstreckend, gleich einer Stadt für sich. Dazu die feierlichen Glockenspiele von den alten Thürmen, der ganz fremdartig klingende und aussehende Militärmusik in einem der Höfe, diese weiten Höfe selbst, dann die großartigen Terrassen mit himmlischer Aussicht in die weite reiche Gegend und in die nahe Tiefe voll der schönsten seltensten echt englisch frischen grünen Bäumen und Sträuchern – kurz das Ganze noch interessanter durch reiche geschichtliche Erinnerungen, machte uns einen wahrhaft erhabenen, nie zu vergessenden Eindruck. Diesem Äußern völlig entsprechend fanden wir auch das Innere des Wunderschlosses: die Kapelle, herrlich gebaut mit ganz ausgezeichneter großartiger Glasmalerei der Fenster, mit den Fahnen und Wappen der engl. Fürsten und Ritter, alles wundervoll eingerichtet fesselten lange unsere Bewunderung. Die ungeheure Schlossküche, die wunderprächtigen Goldsäle, wo sämtliches Tafelgeschirr u.s.w. der Königin aufbewahrt ist und die Augen verblendet und verwirrt, – dienten als Einleitung zur Betrachtung der Staats-Zimmer und Säle, die außer ihrer eigenen Pracht auch noch eine vorzügliche Gemäldegallerie im Inneren und die erquickendste, herrlichste Aussicht aus den Fenstern auf die ganze Gegend darbieten. Besonderen Eindruck macht der große Thronsaal4, der königliche Drawing-Room mit lauter Bildern von Rubens geschmückt5, ferner die prächtigen Treppen. Es wurde uns schwer, von diesem Wunder-Pallast zu scheiden, doch ergötzten wir uns auch noch im Rückweg an den allerliebsten Straßen, Gebäuden und Läden der Stadt, bis wir noch voll Entzücken aber zugleich sehr ermüdet wieder in Hn. French’s lieben Häuschen ankamen, und da abermals etwas frühstückten, wozu noch unsre Herren, die sich sehnten Spohr zu sehen, eingeladen waren. – Rückfahrt nach London bis 7 Uhr, zu frohem Mittagsessen.

Autor(en): Spohr, Marianne
Adressat(en):
Erwähnte Personen: French, Josiah
Rubens, Peter Paul
Shakespeare, William
Taylor, Nora
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: London
Slough
Windsor
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843062890

Spohr



Dieser Tagebucheintrag folgt auf den Eintrag 27.06.1843. Der nächste Eintrag ist 29.06.1843.
 
[1] Der spätere Hinweis, French sei Autografen-Sammler, ermöglicht wohl die Identifikation mit Josiah French (vgl. „Mr. Josiah French”, in: Gentlemen’s Magazine 33 (1850), S. 676ff., hier S. 676f.

[1a] [Ergänzung 07.07.2020:] Am 22.05.2018 wurde bei Sotheby’s London ein Konvolut größtenteils auf Franz Liszt bezogener Briefe versteigert. Darunter befand sich auch ein Schriftstück: „Louis Spohr (to Mr French at Windsor, 20 June 1843, 1 page)“ (Text zu Los 79 nach der mittlerweile nicht mehr vorhandenen Auktionshomepage). Da dieser Tagebucheintrag nahelegt, dass Spohr und French sich vor diesem Zusammentreffen noch nicht kannten, nehme ich an, dass es sich hier um ein Albumblatt vom 28.06.1843 handelt, welches Spohr für Frenchs Handschriftensammlung anfertigte.
 
[2] Vgl. Edward Jesse, A Summer’s Day at Windsor, and a Visit to Eton, London 1841, S. 113.
 
[3] Vgl. ebd., S. 114.
 
[4] Vgl. ebd., S. 146.
 
[5] Vgl. ebd., S. 141-145.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.05.2016).