Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England 1843
Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 2.2.01, Bl. 4r-5r

Montag d. 26st.

Vor 4 Uhr fing das Schiff an ruhiger zu gehen und hatte die ersehnte Themse erreicht. Ich ergriff sogleich den Moment und eilte hinauf zu Spohr, den ich in Kälte und Sturm auf dem harten Verdeck liegend und ganz elend von Seekrankheit fand. ½ 8 allgemeines Frühstück nach englischer Art. Der starke Wind im Rücken hatte das Schiff so schnell fortgetrieben, daß wir schon um 9 Uhr mit den freudigsten Empfindungen bei Blackwall1, dem neuen Landungsplatz ankamen. Wo H. Taylor2 und d. junge Horsley uns schon am Ufer unser warteten. Margaret’s Freude war unbeschreiblich, doch die unsrige beim Wiedersehn des geliebten England nicht viel geringer. hier fand ich auch; daß ein Engländer; Mr. Long, den wir mit seiner Frau schon mehrmals in Belgien, und nun auf dem Schiff auch wieder getroffen, ein Freund des H. Taylor und d. erste Magistratsperson Londons war. Nachdem auf einen Freischein der Regierung unser Gepäck uns ausgeliefert worden, setzten wir uns in den schönen bequemen Eisenbahnwagen und schaukelten sehr angenehm und wiegend über die Häuser und Straßen dahin; in 20 Minuten bis in den Mittelpunkt Londons, ein entzückendes Gefühl, so hoch in den Lüften über die eigenthümlich roth gezackten Dächer der Riesenstadt hinzufliegen und unter sich wechselnd-bald Straßen, bald Höfe oder Gärten, dann wieder schöne Landhäuser, Wiesen etc. Die weitere Fahrt in einer Kutsche ebenfalls ungeheuer interessant, mitten durch das beispiellose Drängen und Treiben der verschiedenartigsten Equipagen und Fuhrwerke durch die brillanten, mit den reichsten Läden geschmückten Straßen großentheils auf festem Holzpflaster, machten wieder den herrlichen überwältigenden Eindruck wie vor 4 Jahren. Nach einer Stunde etwa hielten wir Great James Street, Bedford Row 15 und wurden da in einem allerliebsten Häuschen v. d. Taylor’schen3 Familie auf’s herzlichste empfangen. Die beiden Schwestern4 wollten vergehen in Wiedersehensfreude und vergossen dabei die heißesten Thränen. John T. stellte uns seine Frau Meta vor, die uns bald auch sehr lieb gewann. Sehr frohen Herzens begab ich mich dann bald ans Schreiben, um den Eltern5 unsere glückliche Ankunft schleunigst mitzutheilen. Zu unserer Freude fanden wir auch schon einen ganz herrlichen Flügel aus der Fabrik der Fa. Broadwood, den diese freiwillig zu Spohrs Gebrauch geschickt hatte. Überhaupt empfing Sp. gleich am ersten Tage so vielfache Beweise von Aufmerksamkeit und Verehrung, daß es ihn und mich innig erfreuen mußte. Auch hatten Tayl. schon eine Liste von Einladungen etc. für uns, die sich auf 14 Tage hinaus erstreckte. So müde und angegriffen v. d. letzten Nacht auch Sp., aber ging er doch Abends 9 Uhr in eine Gesellschaft zu Bennett6, wo er diesen selbst, Dreyschock, Filtsch, Hallé und andere vorzügliche Künstler hörte, auch sehr vergnügt gegen 1 nach Haus kam.



Dieser Tagebucheintrag folgt auf den Eintrag 25.06.1843. Der nächste Eintrag ist 27.06.1843.

[1] Bis Mitte des 19. Jahrhunderts Anlegestelle und Werftstandort am Nordufer der Themse, heute Stadtteil des Londoner Eastends.

[2] Edward Taylor.

[3] Außer den im Folgenden noch genannten Kindern Edward Taylors Ehefrau Deborah.

[4] Margaret und Catharine.

[5] Louise und Burchard Wilhelm Pfeiffer.

[6] [Ergänzung Karl Traugott Goldbach, 23.05.2016:] „Mr. W. Sterndale Bennett gave a soirée d’artistes, at his residence in Charlotte-street, Fitzroy-square on Monday night, at which a brilliant galaxy of celebrities officiated; among whom we may mention Dr. Spohr. Some excellent music was performed by M. M. Moscheles, Charles Filtsch, Hallé, Dreyschock, Potter, Dorrell, Lucas, and Sterndale Bennett.” („Mr. W. Sterndale Bennett”, in: Musical World 18 (1843), S. 223). – „He attended the conversazione of our countryman, Sterndale Bennett, on Monday night. He chatted with the artists, young and old – he listened to the music – he applauded liberally the efforts of those who had the honor to perform in his presence – in short, he was one of us – he, Spohr, whom we have hitherto regarded as a dream [...] The impersonal has become personal.” („[Spohr has become among us]”, in: Musical Examiner (1843), S. 253f., hier S. 253). Dazu auch James Robert Sterndale Bennett, The life of William Sterndale Bennett, Cambridge 1907, S. 150f.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Friedrich Frick (23.05.2016).