Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Hannover am 31t May 1843.
Schon von hieraus, mein innigst verehrtester Freund u Gönner! zieht es mich fort, Ihnen mit großer Freude zu sagen, daß ich jetzt hoffe, allerdings am Freytag Abend wieder in Catlenburg zu seyn, und ich mir die Pferde solchen Tags hiereben bereits auf halbem Weg entgegenbestelle; u ich denn, wenn nicht noch ein Deux ex machina dazwischen treibt, am Pfingst-Sonntag Morgen mit der Eil- oder solches Nachmittags mit der Radpost, im voraus umschebt von irdischen und göttlichen Harmonien! dort eintreffen werde! –
Ihre Doppel-Symphonie1 ist mir bis ins kleinste Detail so völlig unverwischlich gegenwärtig, daß die leidige Versäumniß der Probe dieses Meisterwerkes den Genuß der Haupt-Aufführung mir nicht schmälern wird; u für den Fliegenden Holländer darf ich denn, zu einigem Ersatze der Proben vielleicht noch einige Ihrer2 das Verständniß erleichternden, geistvollen Remarquen3 über diese u jene Eigenthümlichkeit der Composition von Ihrer theilnehmenden Freundlichkeit alldort ersetzen!
Stets sehr interessant ist mir ein hiesiger Aufenthalt in mehrfachen Beziehungen! – Zunächst fand ich die politischen Spaltungen u Reibungen um vieles abgestumpft u mehr verschmolzen in der immer kleiner gewordenen ruhigeren Ueberzeugung, daß der König, mit wahrem Feuereifer sogar, durchaus nur des Landes wirklich will, u auf keine Weise zunächst Egoismus ihn leitet u leitete. – Auch erfreute gerade in diesem Augenblicke die Großmuth, mit welcher Er der Staats-Casse4 3000 Rth als eine allgemeine Subvention aus seiner Chatulle zuführte, d.h. jährlich, welches gerade die Summe ist, welche solche dem Stadt-Director Rumann nach Seiner Äußerung nun als Pension bezahlen muß, u allgemein ehrte man diese wahrhaft Königl. 5 Selbstbeherrschung, nach den gegen seine Ansichten ausgefallenen Anspruche des eigenen Ober-Appellations-Gerichtes, – dessen richterl. Selbstständigkeit dadurch eben so sehr geehrt erscheint, – in einer Ihn so tief blessirt6 habenden Angelegenheit, um gleichwohl nicht die mindeste Aigreur7 laut werden zu lassen, noch in der Handlungsweise zur anderen Richtschnur sich zu gestatten als eine jenem Rechts-Spruche nun8 auch von Seiten der genereuseren Billigkeit völlig adequate.9 – [Seine jetzt kund gewordene Absicht war immer, das frühere Straf-Erkenntniß, wenn es geschärft worden nach Seiner Ansicht des Rechtes, als denn dennoch außer Vollzug zu setzen; u dieser Absicht blieb der König auch dann, nachdem Er in dem Vorhaben der Schärfung gescheitert; u das ist gewis sehr ehrenhaft, u wird hier allgemein also empfunden.]10
Es fehlt nun nicht an vielen Anbringungen um die erledigte Stadt-Director-Stelle! – aber, – wäre es thunlich, um die auf diese Weise mit fast11 vollem Gehalte 12 pensionirte Stadt-Director-Stellung zu amtiren, so dürfte die Concurrenz freyich wohl noch ungleich größer seyn!! –
Sodann habe ich mich gefreuet über die auch hier zu bemerkende wirklich großartige u endlich auch geschmackvollere Ausdehnung der Stadt durch ganz neue Straßen u Plätze.
Ganz besonders aber erfreuet mich, wie nun auch allhier so viel mehr für die Kunst geschieht. – Döring, wie auch Madame Schreiber, sah ich gleich Sonntags nach meiner Ankunft in „Richelieu, oder die Tage der Geäfften“ von Bulwer13 mit einem wahrhaft ungewöhnlichen Genuße.
Montag Abend hörte ich die Schrickel, als Amina in der Nachtwandlerin14, u zähle sie unbedenklich zu den besten Sängerinnen die ich hörte! Ganz ungewöhnliche Kraft u Fülle der Stimme, ohne jemahls zu schreyen, vollkommene Beherrschung der Stimme, Glocken-Reinheit in den feinsten Nuanchen selbst der halben Töne, eine sich von Anfang bis zu Ende völlig gleichbleibende Ausdauer, liebliche Deutlichkeit in dem Pianissimo das s.g. Presque rien15! u das Vermögen zu jeder Art von Coloraturen u Laufwerk ohne irgend Mißbrauch davon zu machen; eine wirkliche eigentliche Sängerin; – die ich als solche im Allgemeinen noch über die Fischer Achten stellen würde; wegen ihrer ungleich großartigeren Mannigfaltigkeit; wenngleich die F. Achten im sentimentalen Genre allein mir immer fast unerreichbar erscheint. –
Gestern Abend gab der junge Kiesewetter eine musicalische Soirée, in welcher auch die Schrickel höchst vortrefflich sang, – doch fast etwas so schwach für den Saal, – wenn gleich das wohlthuende einer eigentlich schönen Stimme nie verletztend; wo16 auch Mad. Schreiber wahrhaft entzücken declamirte. – Der Concertgeber selbst hat offenbar viel Talent von Natur ererbt; u der Schüler von de Bériot trat zuerst in dessen Compositionen frappant charactervoll hervor; auch mannigfach interessant. Dann kommen aber in Compositionen solche Reihefolgen Paganinischer Nachäffungen, u noch dazu sehr mittelmäßig executirt, daß ich den zweyfellos genialen jungen Mann ob dieser unglücklichen Richtung sehr bedaure! –
Der Gesang des Hr. Steinmüller, Baritonist, wohl fast Bassist, gefiel mir allda im Saale besser, als auf der Bühne; weil er an Kraft in solchem kleineren Saale gewann.
Die Schrickel soll häßlich seyn; – u das reicht hin um ihre Siege sehr zu erschweren; u ich hörte hie u da in selbst höheren Rängen der Gesellschaft die unverständigsten Urtheile über ihre Leistungen! Alle wirklichen Musikfreunde aber sind entzückt von ihr. Sie bekommt in diesem ihren erste Ausfluge in die practische Kunst-Carrière 3500 Rth. u noch [???] pp; ich will aber wohl vorher sagen, daß doch Gewissenhaftigkeit den größten Antheil an dem aushalten hiesigen Engagements wird haben müssen, so wie sie ein Mahl in Berlin oder Wien pp gastirend wird aufgetreten seyn; der Häslichkeit zum Trotze! –
Der Cammerherr v. Meding versprach mir zu Morgen Abend noch eine Rolle derselben, wenn ihr Befinden es zulassen werde. Es würde dann im Barbier von Sevilla seyn. – Es ist eine von den Sängerinnen, von denen man denn am Ende alles gerne hört! – u so auch die Rosine! – Auch die Chöre sind sehr verstärkt und verbessert gegen früher; wie auch das Orchester; dessen Präcision indessen noch zu wünschen übrigläßt, hoffentlich über das alles mündlich mehr. Innigst – Ihr dankbarer Verehrer
CFLueder.
Autor(en): | Lueder, Christian Friedrich |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Kiesewetter (Violinist) Meding, Ernst von Rumann, Wilhelm Schrickel, Mina Steinmüller, Joseph |
Erwähnte Kompositionen: | Bellini, Vincenzo : La sonnambula Rossini, Gioachino : Il barbiere de Sevilla Spohr, Louis : Irdisches und Göttliches im Menschenleben |
Erwähnte Orte: | Hannover |
Erwähnte Institutionen: | Hoftheater <Hannover> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843053135 |
Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Lueder, Mai 1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lueder an Spohr, 16.12.1843.
[1] Irdisches und Göttliches im Menschenleben.
[2] „Ihrer“ über der Zeile eingefügt.
[3] „Remaque oder -ke, die Bemerkung, Anmerkung“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 400).
[4] Hier gestrichen: „Rth.(?)“.
[5] Hier ein Buchstabe gestrichen.
[6] „blessiren, fr. verwunden, verletzten“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörtebuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 62).
[7] „Aigreur, fr. (spr. Aegrör) die Bitterkeit, Säure“ (ebd., S. 19).
[8] „nun“ über der Zeile eingefügt.
[9] Zur Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Rumann und König Ernst August vgl. Ferdinand, Frensdorff, „Rumann, Wilhelm“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 638-642 [Online-Version]; H[einrich] Albert Oppermann, Zur Geschichte des Königreichs Hannover von 1832 bis 1860, Bd. 1, Leipzig 1860, S. 254.
[10] Text in Klammern am linken Seitenrand eingefügt.
[11] „fast“ über der Zeile eingefügt.
[12] Hier 2-3 Buchstaben gestrichen.
[13] Vgl. [Edward Bulwer], Richelieu; oder: Die Verschwörung. Ein geschichtliches Lustspiel in fünf Akten, Stuttgart 1840.
[14] La sonnambula von Vincenzo Bellini.
[15] Frz. „fast nichts“.
[16] „wo“ über der Zeile eingefügt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.05.2021).