Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Catlenburg am 1t May 1843.

Mein innigst verehrtester Freund und Gönner!

Wenn der Ausdruck meiner so tief u innig empfundenen Dankverehrung der Ihnen und Ihrer verhertesten theuren Frau Gemahlin wahrlich unerschöpflichen Güte abermahl zu verdankenden herrlichen Kunstgenüße bis daher nicht auch schriftlich noch wiederholt ist: so unterblieb das allein in der steten Vergegenwärtigung der Kostbarkeit Ihrer Minuten, buchstäblich für Mit- u Nachwelt! –
Indeß aber kann ich nun damit die Relation eines 2 tägigen Geschäfts-Aufenthaltes in Braunschweig verbinden, die vielleicht einige Ihnen interessante Notizen gewährt.
Zuerst habe ich die Nachricht1 zu berichtigen, daß Georg Müller bey Gelegenheit in dem Berlioz veranstalteten Festmahls dessen Toast ausgebracht habe; was mich gleich um so mehr frappirte, als ich die kleine Scheu gegen alle dergleichen Vorträge in größeren Zirkeln bey allen 4 Brüdern Müller öfter zu bemerken Gelegenheit hatte. – Keiner dieser, bey dergl. Gelegenheiten wenig bewandten, 4 Brüder hat irgend einen Toast ausgebracht; sondern umgekehrt hat Berlioz zu deren Verherrlichung einen Trinkspruch gewählt.
Den Toast des Berlioz hat Hr Schade ausgebracht; aber auch dieser hat nichts jene empörende Schmeicheley des vereinigten Genius Haydn’s, Mozart’s u Beethoven’s sich hat zu Schulden kommen lassen; sondern er hat gesagt: er begrüße ihn, – Berlioz, – zwar als einen Franzosen von Geburth, aber als einen Deutschen von Geist und Richtung in der 2 ergreifendsten aller Künste, welche der fortwährende Genius eines Haydn, Mozart, u Beethoven, auf einen so hohe Stufe in diesem unserem Deutschland gehoben habe, pp. –
Dieses referirte mir auf mein Befragen Dr Griepenkerl; u eine völlig unbefangene Bestätigung gewährte mir am Table d’hôte eine Tischempfehlung eines meiner älteren Bekannten, Gutsbesitzer Amtmann Reinecke3, der zufällig auch gerade in Braunschweig gewesen war u jenem Fest-Mahle sich angeschlossen hatte. Dieser sagte mir, Hr Schade habe den Toast in französischer Sprache ausgebracht, u da er, Reinecke, in großer Entfernung davon gesessen, so habe er nicht alles deutlich verstehen können; da aber auch ihn die besonders hervorgehobenen Namen Haydn, Mozart, u Beethoven dann doch etwas verstört hätten: so hätte er gleich nachgefragt, in welchem Zusammenhange diese genannt wären? – er dieselbe Explication erhalten. –
Dr Griepenkerl war, wie Sie denken können, enthusiasmirt! – Mehr aber noch indignirt über die Behandlung, die Berlioz in manchen „miserablen“ kritischen Blättern, z. B. den Hamburgern pp habe erfahren müssen, die aber „Deutschland mehr bescheinigten „oder den Mann, der mit reinem Feuer-Eifer u Enthusiasmus für gerade die Deutsche Musik nicht in der Meinung eines Propheten, sondern in der Hoffnung nach Deutschland gekommen sey, in diesem classischem Lande eher verstanden zu werden, als in seinem Frankreich, – u die deutschen Musiker, von denen er in jeder Äußerung „die Knie beuge“ erst völlig in ihrem Original-Darstellung zu begreifen, der nach Deutschland gekommen sey mit dem inneren Drange, „etwa so, wie der deutsche Maler u Bildhauer nach Italien gehe“ u.s.w. –
Er war im Begriff eine die Individualität des Berlioz betreffende Broschüre4 zu schließen; – die in diesen Tagen bey Vieweg erscheinen wird. –
In etwas frappirend war nun allerdings, daß auch Männer wie der alte Griepenkerl u Capellmeister Wiedebein doch sehr eingenommen von jenen Berliozzischen Aufführungen waren. Des letzteren Nachbar in der Sing-Academie war ich; u da erwiederte er meinen tadelnden Voraussetzungen in Betreff jener Aufführungen, „es ist doch viel Scharfsinn bey dem Mann neben Genie nicht zu erkennen!“ – Eine Explication über jenen Ausdruck „viel Scharfsinn“ zu erbitten, fehlte die Zeit; er frage aber, was ich von dessen Compositionen gehört habe,? – u da ich die King-Lear-Ouvertüre nannte, bemerkte er: „Nunja! das ist kürzlich so einer seiner ersten Versuche, in denen ein jedes Genie erst beyhin zu greifen bedacht ist! – Die späteren Compositionen würden Ihnen, glaube ich, besser gefallen!“ – (??)5
Dr Griepenkerl hatte mir dagegen Morgens gerade diese Ouvertüre als eines der genialsten Meisterwerke dieses Neuerers bezeichnet! „welcher er auch in jener Broschüre speciell analysiert habe; – worauf ich denn allerdings neugierig bin!6
Das, was ich in der Musik gemein nannte, – nannte er Humor; à la Jean-Paul u Shakespear; der auch bey diesen beyden Herren der Literatur, ohne die richtige Äußerung, so gemein oft erschien als nur etwas es seyn kann; so z. B. wenn7 King Lear, einen seiner Hofleute ni fallor8, in der Heftigkeit sage: „ihm werde man wohl Kuhmist statt Salat zu essen geben können!“9
Ich erwiderte ihm daß das Gemeine meine Liebhaberey niemahls seyn könne, es möge ein überströmender Humor oder Geistes-Armuth die Grundlage davon seyn; u daß ich daher auch die [???]-Genre-Stücke(???) der niederländischen Schule niemahls habe betrachten können, ohne über die10 Zeitverschwendung an11 solchen Sujets mich mehr zu ärgern, als an der getreuen Darstellung gemeiner Momente mich zu erfreuen; wie wohl das doch noch etwas ganz anderes sey, als gemeine Melodien in der Musik zu ertragen; u daß diese Art von s. g. Humor auch gar nicht erforderlich sey, um zu fesseln, zu begeistern u zu entzücken, beweise doch kurz u gut wohl Mozart, den dem ich wenigstens auch nicht zwey Tacte kennte, die man gemein nennen könne! – u.s.w.
Sie können leicht denken, daß wir einig nicht wurden! – doch gab ich recht gern das Versprechen, bey einer zum Herbst zu erwartenden 2ten Anwesenheit dieses Zankapfels Berlioz, wenn irgend möglich, auch selbst nach Braunschweig zu kommen, um der Gefahr „der Bekehrung“ dreist und unbefangen in’s Auge zu schauen! – und damit würde mir selbst wahrhaft gedient dazu! – wenn gleich auch nicht entfernt in der Meinung einer Bekehrungs-Reise! –
Wenn gleich nun die Gebrüder Müller, das gesammte Opern-Personale abwesend waren u von den ausgezeichneteren Dilettanten selbst auch die Hofräthin Marx: so bothen doch beyde Abende meiner Anwesenheit in Braunschweig wiederum ungemein interessante Kunstgenüße dar! – Am 25t feyerte die neuerlich constituirte Sing-Akademie den Herzogl. Geburtstag durch eine Fest-Aufführung in den Herzogl. Casino-Sälen; zu welcher mir die große Freundlichkeit des eben berührten Hn Schade Eintritt ohne Billett verschaffte, wenn gleich die Raum-Beengung erfordert hatte, selbst für die Familien der Mitwirkenden die Zahl der Billette auf je 2 zu beschränken;. 12
Aus dem anliegenden Textbuche ersehen Sie, wie die Wahl vorzugsweise aus classischen Werken getroffen war; wobey man wohlweißlich Ihren 8ten Psalm13 dem ehrwürdigen Johann Sebastian zunächst angereihet hatte; – mir nun, wie alle übrige Aufführungen mit alleiniger Ausnahme des Chor’s der Priesterinnen aus Iphigenie; u daher um so interessanter und spannender. –
Die Sopran- u Alt-Soli wurden wahrhaft entzückend ausgeführt von der nun auch verheirathten Altistin geborne Quenstaedt, u von zwey Fräulein Franke; von denen die Sopranistin der früheren Sopranistin, jetzt auswärts auch verheyratheten, Quenstaedt entschieden noch vorzuziehen ist u die Altistin ebenfalls sehr ausgezeichnet ist; wenn sie auch die Altistin Quenstaedt – in14 der Meyer-Beer bey weiterer Kunstreife eine 2t Malibran prophezeyhen wollte15, – allerdings nicht erreicht.
Auch die Chöre waren, zu Mahl für die kurze Zeit des Etablissements, wirklich vortrefflich zu nennen; wenn gleich man besonders in Ihrem unendlich erhebenden herrlichen Psalm hie u da ein Mahl einige kleine Schwankungen bemerkte; u im Allgemeinen der Tenor zu vorherrschend, u, – wie gewöhnlich – der Alt nicht immer genug hervorgehoben wurde. –
Das Textbuch sende ich Ihnen zunächst mit, um Ihnen das von Seiten der Dichtung wie der Composition in der That vorzüglich gut gelungene Werkchen Methfessel’s, „das deutsche Lied“ mitzutheilen; desse Ausführung, – allerdings von zugänglichsten u täuschensten zu begreifen von allen Ausführungen, - so wenig des Dichters u Componisten Persönlichkeit auch gerade in jenem zunächst versammelten Publico 16 im Allgemeinen beliebt ist, mit allgemein sich kundgebenden Entzücken aufgenommen, und, – allerdings auch zu meiner unterstützt, u wahren Freude, – eine Wiederholung mit allgemeiner Befriedigung ertbothen wurde. – Einige Unisono-Tutti-Stellen erinnerten mich allerdings in etwas an den Unisono-Chor zu Anfang der Norma; vielleicht aber lag das auch blos in der Unisono Form; u in jedem Falle war die Wirkung des Ganzen so ansprechend u vortrefflich, daß ich das Lied auch für dortige gelegentliche Benutzung dreist empfehlen zu dürfen glaube.
Auch das Finale aus Wiedebein‘s Oratorium „die Befreyung Deutschlands“ – geschrieben 1813, – überraschte mich um so mehr, als ich bisher in dem ängstlich bescheidenem allenthalben gern unbemerkt sich zurückziehenden Mann so trocener äußerer Erscheinung, u so früh in Ruhe versetzt, eine solche Leistung nicht erwartet hätte! – Der Choral des Chor 2, – in ähnlicher Form des ersten Chors mit Choral in der Bachschem Passion, – wurde mit vorzüglich gut u discret behandelten Posaunen u Pauken unterstützt, u war von wirklich tief ergreifender Wirkung. –
Am andern Abend, dem 26t, gaben mehrere jugendliche Talente ein Concert im Saale des Medicinischen Gartens; – (beym Eingange gedachte ich zugleich Ihrem Herren Bruder17 einen Besuch zu machen, u ihm über die Ihnen verdankte interessante Osterwoche zu referiren, traf ihn aber nicht zu Hause) – wobey nicht nur diese der herrlichen Kunst geweihten jungen Talente sich sehr erfreuten, sondern auch die anzutreffende Füllung des Saales. – Vorzugsweise interessirten mich 2 Schüler Carl Müller ’s, Hohnstock u Bojé, – welche, wenn gleich sie gar weit hinter Ihrem genialen liebenswürdigen Bott zurückbleiben, mir doch viel Vergnügen gewährten; vor allem in einer Conzert-Etüde für 2 Violinen ohne Begleitung von De Bériot, – in 4 Sätzen; – famoses Zeug! – u mich besonders durch ein zum Theil, mir noch neue Form ergötzend; – das Bestreben nach Vollstimmigkeit für die einzlene Geige in ihrer Art ebenso darlegend, wie die neueren Piano-Compositionen. Bey verbundenen Augen hätte man häufig mindestens 4 Geigen voraussetzen sollen! –
Auch interessirte mich eine Romanze von Beethoven für die Violine mit Begleitung des Pianoforte’s um so mehr, als ich sie auch nicht kannte; u darinn selbst Formell die Idee des Liedes ohne Worte bereits vor 40 Jahren ausgeführt war. – Sehr schön; wenn gleich man natürlich an Ihren neulichen Poesiereichen Vortrag Ihrer durch unnennbare Anmuth so fesselnden u tief bewegenden neueren derartigen [???] declamatorischen beyden Compositionen18 dabey nicht denken durfte! –
Die Gebrüder Müller machen eine Quartett-Reise; zunächst über Magdeburg nach Weimar pp, vielleicht bis Dresden; – u hoffe ich fest, daß sie auf der Rückreise auch unsere friedriche Burg berühren; wo in diesem Augenblicke die Nachtigallen auch Doppel-Chöre aufführen! –
Doch – verzeihen Sie, mein innigst verehrtester Gönner! daß die Kostbarkeit Ihrer Minuten für Mit- u Nach-Welt sich nun doch meiner Vergegenwärtigung also entzog! !!
Unter den herzlichsten Empfehlungen meiner Frau, – die sich gleichfalls auf die Ferien Ihres genialen Schülers19 unbeschreiblich freut, – mit der innigsten Dankbarkeit

Ihr
wärmster Verehrer
CF Lueder

N.S. Doch muß ich noch bemerken, daß ich die mir sehr nahe gehende neuliche Äußerung der gleichwohl sehr sachverständigen talentreichen Braunschweigerin, daß das Opern-Orchester in Braunschweig neuerlich höchst bedauerlich in seinen Leistungen zurückgegangen sey, dasselbst jetzt von andern Kunstverständigen auf das bestimmsteste widersprochen hörte. – Vielleicht hat die Marx gerade eine Ausführung getroffen, in welcher H. Freudenthal dirigirte, welche unglücklich Fügung auch ich nicht bestand, – bey Pretiosa, – u allerdings ebenfalls jeden ferneren Besuche der Oper dabey hätte entsagen mögen! –



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrerspondenz ist Lueder an Spohr, 05.04.1843. Spohr beantwortete diesen Brief im Mai 1843.

[1] Offensichtlich bezieht Lueder sich hier auf mündliche Mitteilungen, die er Spohr bei seinem gerade zurückliegenden Kasselaufenthalt in den Ostertagen machte.

[2] Hier ein Wort gestrichen („Kunst“?).

[3] Möglicherweise der Amtmann Friedrich Wilhelm Reinecke in Halle an der Saale, der zu dieser Zeit ein Gut in Harzgerode bewirtschaftete.

[4] Wolf[gang] Rob[bert] Griepenkerl, Ritter Berlioz in Braunschweig. Zur Charakteristik dieses Tondichters, Braunschweig 1843.

[5] Sic!

[6] Die Broschüre nennt die Ouvertüre, analysiert sie jedoch nicht (vgl. ebd., S. 5, 18 und 22).

[7] Hier gestrichen: „im“.

[8] „ni fallor“ (lat.) = „wenn ich mich nicht irre“.

[9] Vgl. ebd., S. 17.

[10] „die“ über der Zeile eingefügt.

[11] „an“ über der Zeile eingefügt.

[12] Hier mehrere (sieben?) Wörter gestrichen.

[13] Op. 85.1.

[14] „in“ über der Zeile eingefügt.

[15] Vgl. Lueder an Spohr, 26.04.1840.

[16] Hier ein Buchstabe gestrichen.

[17] Wilhelm Spohr.

[18] Offensichtlich die beiden ersten Stücke aus den Duos Elegisch und humoristisch op. 127, die Julius Schuberth im Druck mit dem Untertitel „Lieder ohne Worte“ versah.

[19] August Kömpel.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (31.03.2021).