Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Abschrift: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einer Abschrift von Franz Uhlendorff
Inhaltsangabe: La Mara (Pseud. f. Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 150, Anm. 1

Cassel den 16ten März
1843.
 
Geliebter Freund,
 
Alles was sich von Sologesangstimmen vorgefunden hat, ist Ihnen mitgeschickt worden. Sie waren nach Hechingen verliehen und es ist leicht möglich, daß dort einige zurückgeblieben sind.1 Auch erinnere ich mich dunkel, daß bey der letzten hiesigen Aufführung Föppel die seinige verloren hat. Vieleicht finden Sie bey wiederholter Durchsicht aber doch noch einige mehr, wie Sie nennen, da Sie vieleicht übersehen haben, daß mehrere zusammengeheftet sind. Könnten Sie denn nicht im schlimmsten Fall das Fehlende aus dem Clavierauszuge singen lassen?
Das Jubiläum des dortigen Abonnementsconcerts muß ein interessantes Fest gewesen seyn und ich hätte ihm wohl beywohnen mögen!2 Aufgefallen ist mir aber, daß in dem Festgedicht zweier langjähriger Dirigenten des Concerts nicht erwähnt worden ist, da sie sich doch auch um das Institut verdient gemacht haben, ich meine Campagnoli und Eberhard Müller. - Der plötzliche Tod von Polenz hat mich recht erschreckt und überrascht, da ich von den vorhergegangenen Schlaganfällen nichts gehört hatte. Wie sehr ist die arme Frau mit ihren Kindern zu beklagen!
Wir haben Wagners Fliegenden Holländer verschrieben und ich bin gespannt auf die Partitur. Wir hatten im Voraus das Buch einschicken lassen, um zu sehen, ob die Besetzung und Ausstattung unsre Mittel überschreiten. Dieses Buch ist nun wirklich ein kleines Meisterstück und ich bedaure, daß mir vor 10 Jahren nicht ein ähnliches, eben so gutes, vor Augen gekommen ist! Die Handlung ist einfach, wie es sich für eine durchkomponirte Oper gehört und doch anziehend vom Anfang bis zum Ende. Es sind nur 5 singende Personen und die Musikstücke sind meisterhaft geordnet. Die Scenerie scheint mir aber große Schwierigkeiten darzubiethen und an ihr kann mancher Efekt scheitern! Denken Sie sich das Meer mit 2 vor Anker liegenden Schiffen und auf beyden Gesang der Matrosen! Was werde ich da mit Baldeweinschem Takt zu kämpfen haben!
Da Sie jezt meinen letzten Brief in Händen haben werden, in welchem ich allen hiesigen musikalischen Stoff erschöpft habe, so kann ich nun schließen. Doch eins von gestern Abend fällt mir noch ein! - Am vorigen Sonntag spielte unser Schüler Bott meine neue Claviersonate in einer Musikparthie bey mir, weil meine Frau, wegen einiger [halsbrechenden???] Stellen, sich nicht entschließen konnte, sie in Gegenwart von vielen Leuten vorzutragen. Ich hatte sie ihn einige Male bey mir spielen lassen, und so war der Vortrag derselben wirklich ausgezeichnet und er wurde von unsern Clavierspielern außerordentlich bewundert. Gestern Abend in einer Gesellschaft bey Nebelthau wurde er zum Spielen aufgefordert und da er keine Musick mitgebracht hatte, so spielte er den ersten Satz der Sonate auswendig ohne auch nur einen Ton zu fehlen! Wäre er gedrängt worden, so hätte er es mit den andern Sätzen vieleicht auch zu Stande gebracht. Ich wollte es aber nicht, damit der Eindruck nicht wieder verwischt werden sollte. Der Junge ist doch durch und durch musikalisch! Ich war sehr überrascht! - Auch der Andre macht sich.3 Er ist noch unternehmender wie Bott und ich habe Mühe gehabt, ihn von der Komposition einer Oper abzubringen, die er aufgetrieben hatte. - Er giebt sogar meinem englischen Schüler4 Unterricht in Komposition.
Herzliche Grüße an Ihre liebe Frau.
 
Ganz der Ihrige
Louis Spohr
 
N.S. Ich habe so eben durch Martin in den Musikschränken des Vereins5 nochmals nach den fehlenden Stimmen suchen lassen, es hat sich aber leider nichts gefunden.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Hauptmann an Spohr. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 22.03.1843.
Die Inhaltsangabe von La Mara bestätigt die Überlieferung zumindest eines Teil dieses Briefs: „Den Holländer hatte Spohr bereits 1843 aufgeführt und die Dichtung in einem Brief an Hauptmann vom 16. März 1843 als ein Meisterstück bezeichnet.“
 
[1] Bevor das Material zu Des Heilands letzte Stunden für eine Aufführung der Singakademie nach Berlin ging, hatte es Spohr an die Hechinger Hofkapelle verliehen (vgl. Thomas Täglichsbeck an Spohr, 27.11.1842).

[2] Zum 100jährigen Jubiliäum der Gewandhaus-Konzerte vgl. „Aus Leipzig”, in: Neue Zeitschrift für Musik 18 (1843), S. 95-98.
 
[3] Hugo Staehle.
 
[4] Henry Tivendell.
 
[5] Wohl der Cäcilien-Verein, ein von Spohr für die hoffähigen Kreise gegründeter gemischter Chor.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.12.2016).