Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.3 <Zahn 18430315>

Cassel den 15ten März
1843.

Geliebte Emilie,

Noch immer sind wir ohne neuere Nachrichten von Euch und es wird mir nun selbst wahrscheinlich, daß bei den vielen Schiffbrüchen des Herbstes und Winters ein Brief von dir verloren gegangen ist. Wir würden in der größten Besorgniß seyn, hätten wir nicht einige Mal durch die Angehörigen der anderen von hier nach New York ausgewanderten kurze Nachricht von Eurem Wohlbefinden erhalten und wäre uns nicht eine Zeitung1 aus Philadelphia zu Gesicht gekommen, die von Deiner Reise und dem Fest, welches die dortigen Musikfreunde dir gegeben haben, so viel für uns Erfreuliches erzählt hätte. Nun sehnen wir uns aber um so mehr spezielleres hierüber und über Euer Befinden von Dir selbst zu erfahren. Doch hoffentlich ist ein Brief von dir unterwegs! – Unser Befinden ist gut und meine vorjährige Carlsbader Kur hat mich bis jetzt, Gott sey Dank, von Rückfällen meines alten Übels bewahrt. Im Übrigen war unser Leben wie früher und so ist im alten gewohnten Geleise der Winter ziemlich schnell vergangen und wir dürfen uns jetzt, wo die Schneeglöckchen vor unseren Fenstern blühen auch wieder auf das nahe Frühjahr freuen! Von unseren Musikparthien wird Dir die Ida aus ihrem Tagebuch das Nähere schreiben; so will ich Dir lieber von meinen neueren Arbeiten erzählen. Die 7te Sinfonie „Irdisches und Göttliches im Menschenleben” für 2 Orchester, die hier im Winter nach deiner Abreise so viel Glück machte, daß sie in einem der folgenden Concerte wiederholt werden musste2 und uns neue Einnahmen verschaffte, wie wir sie nie früher gehabt hatten, ist nun gestochen und ohnlängst versandt worden und scheint die Aufmerksamkeit des musik. Publikums im hohen Grade zu erregen. Von fast allen bedeutenden Städten Deutschlands lese ich Ankündigungen, daß diese Sinfonie noch vor dem Schluß der Wintersaison gegeben werden soll und seit 14 Tagen hat sie mir viel Schreiberei verursacht, weil man sich von mehreren Seiten bey mir erkundigte, wie die Aufteilung der beyden Orchester und ihre Aufstellung seyn müsste. Ich bin nun neugierig auf den Erfolg und ob sie allenthalben so viel Glück machen wird wie in London und Leipzig, wohin ich sie im Manuskript geschickt hatte. „Der Fall Babylons” ist nun auch in Partitur und Clavierauszug gestochen und wird, so viel ich weiß, zuerst in Breslau gegeben werden. Kürzlich gab die Singacademie in Berlin „Des Heilands letze Stunden” und die Berliner Zeitungen melden viel Schönes von dieser Aufführung.3 Auch über die Komposition sprechen sie sehr günstig, doch fehlt auch das alte Lied „von elegischer Weichheit” nicht! – außer den beyden, dir bereits bekannten Trios für Piano, Violine und Violoncell, habe ich nun auch ein 3tes geschrieben, welches ebenfalls jetzt gestochen wird. Die beyden ersten haben sich über ganz Deutschland verbreitet und sind auch schon in London nachgestochen worden. Herr Schubert, der Verleger macht damit gute Geschäfte. Für unsere diesjährigen Abonnementsconcerte schrieb ich eine vierte Concertouverture, die den Kenner sehr gefiel. Besonders war Herr Lueder sehr entzückt! In diesen Tagen wird sie auch in Leipzig gegeben. – Das neueste ist eine große Claviersonate, die ich Mendelsohn dediciere. Vor ein paar Tagen hatten wir bey uns eine Musikparthie, wo sie zum ersten Mal produziert wurde. Da sie einige halsbrechende Stellen hat und für die vollgriffigen Accorde eine große Hand verlangt, so wollte Marianne sich nicht bequemen, sie vor Leuten zu spielen. Ich studierte sie daher dem kleinen Bott ein, der sie auch zur Verwunderung aller anwesenden Clavierspieler vollkommen bezwang. Marianne spielte das 2te Trio, bei dessen Adagio Dotzauer immer einen wahren Triumph feiert; Frau von Malsburg ein schönes Trio von Marschner.
Da aus der projectierten Reise zum Musikfest in Norwich nichts geworden ist, so wollen wir nun die nächste Ferienzeit zu einer Reise nach England verwenden und da wir noch zum Schluß der Saison nach London kommen werden, so habe ich bereits zugesagt im letzten Philharmonischen Concert zu spielen und eine Aufführung des Oratoriums „der Fall Babylons„ zu dirigieren. Nach vollbrachten Geschäften in London werden wir dann eine Excursion ins Land machen, wahrscheinlich zu erst nach Liverpool weil dahin eine Eisenbahn fährt und ich jetzt einen Schüler4 von dort habe. Diese Reise ist noch für alle unsere Bekannten hier ein Geheimniß, weil ich fürchte, daß, wenn der Prinz5 davon hörte, er auf Mittel sinnen würde, diese zu verhindern. Die jüngste Tailor die jetzt bey Frau von Malsburg und uns abwechselnd zu Besuch ist, wird uns dann begleiten, vielleicht auch Fr. von Malsburg, wenn sie sich wohl genug fühlt.
Von dem Befinden des Vaters kann ich dir leider nicht viel tröstliches melden. Sein körperliches Befinden ist zwar noch ziemlich dasselbe wie bey deiner Abreise, der Geist wird aber immer schwächer. Wie ich ihn vorigen Sommer von Braunschweig aus besuchte, hatte er die traurige Idee, alle seine Kinder wären gestorben.6 Mein Anblick machte daher einen erschütternden Eindruck auf ihn und nachdem er sich in meinen Armen ausgeweint hatte, war er eine halbe Stunden lang sehr lebendig und fast wieder der alte. Aber noch ehe wir wieder abreisten, verfiel er von Neuem in die gewöhnliche Bewusstlosigkeit und so mogte ich nicht einmal Abschied von ihm nehmen. Er ist übrigens sehr gut bei Hörmann aufgehoben und verpflegt.7 Der Tod der guten Tante Lotte8, der im Herbst erfolgte hat mich auch sehr ergriffen!
Lebe wohl meine gute Emilie und schreibe uns ja recht oft und ausführlich, besonders von deinem lieben Kinde9. An Zahn die herzlichsten Grüße. Von Marianne und den ihrigen alles Freundliche!
Dein dich herzlich liebender Vater.



Der letzte erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Zahn, zwischen 03. und 21.07.1842. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Zahn, 03.07.1843.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] Vgl. Spohr an Wilhelm Speyer, 03.05.1842; „Cassel am 6. Januar”, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 4 (1842), S. 31.

[3] Noch nicht ermittelt.

[4] Henry Tivendell.

[5] Der spätere Kurfürst Friedrich Wilhelm.

[6] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 29.07.1842.

[7] Zu diesem Zeitpunkt lebte Carl Heinrich Spohr bei seinem Neffen Louis Hörmann, Pfarrer in Klein Mahner bei Goslar (vgl. [Ludwig] Spohr, Spohr'sches Familienbuch. Genealogie der Familie Spohr aus Alfeld und kleine Beiträge zu einer Familien-Chronik, Karlsruhe 1909, S. 29).

[8] Vermutlich Charlotte Spohr, Ehefrau von August Spohr.

[9] Nathalie Zahn.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Neele Nolda (05.05.2020).