Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 132-136.

Cassel den 13ten März 1843.
 
Geliebter Freund,
 
Unsern besten Dank, daß Sie die Angelegenheit mit der Mendelssohn'schen Sinfonie regulirt haben. Ich bin nun so frei, die sämtliche, von Leipzig erborgte Musik an Sie zu adressiren, mit der Bitte, sie an die Eigenthümer zurückzugeben und unsern herzlichsten Dank dabey auszusprechen. Die Sinfonie hat unserm Publiko außerordentlich gefallen und auch ich habe sie mit jeder Probe lieber gewonnen und halte sie für das Beste was Mendelssohn bisher von Instrumentalmusik geschrieben hat. Doch sind auch in dieser Sinfonie, wie in seinen Quartetten, Einzelheiten, mit denen ich mich nicht befreunden kann, z. B. die in jedem Theil des 1sten Allegro 3 mal wiederkehrende Modulation (auf Pag. 24 der Partitur),

die für mich etwas so unangenehmes hat, daß ich mich durchaus nicht daran habe gewöhnen können. Dann wünschte ich, es wäre dem lebendigen, originellen Finale nicht noch der 6/8 Schluß angehängt, der wie ein triviales Volkslied klingt und mir nicht dahin zu passen scheint. — Wir hatten, um das Publikum zu orientiren, auf den Zettel gesetzt: Sinfonie in 4 aneinanderhängenden Sätzen; dieß hat vieleicht dazu beygetragen, daß das Publikum sich sehr zufrieden darüber ausgesprochen hat. Doch bin ich auch selbst zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Sätze dieser Sinfonie sich nicht trennen lassen, ohne der Wirkung bedeutend zu schaden. Man läßt es sich hier gern gefallen, weil Alles so interessant und die Aufmerksamkeit spannend ist und doch auch nicht zu lange dauert. (36 Minuten.) Andere Komponisten werden doch aber wohl thun, bey der alten Weise zu bleiben! — Die Ouverture „Die Waldnymphe" von Bennet hat mir ebenfalls sehr gefallen. Sie hat gute Form, ist lebendig, eigenthümlich in der Modulazion und sehr wirkungsvoll instrumentirt. Dem Publiko schien sie weniger zuzusagen. Beyde Kompositionen gingen wirklich vortrefflich. Die Sinfonie hat aber auch noch den Vorzug, daß sie durchaus nichts enthält, was nicht gut und sauber herauszubringen wäre. Ich bewundere, daß Mendelssohn die Mechanik der Blasinstrumente so gut kennt! Haben Sie die Güte, ihm in meinem Namen für den Genuß zu danken, den mir dieß neueste Werk wieder verschafft hat. —
Ich lege dem Paquet auch meine neue Claviersonate bey und verbinde damit eine Bitte. Wenn ich nicht irre, schrieb ich Ihnen bereits1, daß ich auf die, mir bisher fern liegende Idee, eine Clavierkomposition ohne Begleitung zu schreiben, durch die wiederholten Aufforderungen eines englischen Verlegers2 gekommen sey. Nachdem ich mich endlich entschlossen hatte, schrieb ich ihm, das Werk sey begonnen und werde nun auch bald abgeliefert werden können. Hierauf erhielt ich nach einiger Zeit die Antwort: „er habe mir ein Schema einschicken wollen, weil er die Sonate in anderer als der gewöhnlichen Form zu haben wünsche, dieß habe er verlegt und bis jetzt vergeblich gesucht, - er hoffe es mir aber nächstens zusenden zu können"3. Daß ich mit einem solchen Narren, der sich einbildet, ich werde wie der Schneider nach einem gegebenen Maaße arbeiten, sogleich und für immer abgebrochen habe, werden Sie leicht denken können. Nun muß ich aber für die Sonate einen andern Verleger suchen und es liegt mir daran, daß sie bald gestochen werde, weil ich Mendelssohn bereits angezeigt habe, daß ich sie ihm dediciren werde. Von jeher war mir aber nichts verdrießlicher, als die Correspondenz mit den Verlegern. Dieß hat mich nun auf den Gedanken gebracht, daß Sie, da in Leipzig ein ganzes Nest von Verlegern ist, bey Gelegenheit, wo Sie diese Herren im Concert oder Gesellschaft treffen, ohne Beschwerde den einen oder andern zu befragen wohl die Güte hätten, ob er die Sonate verlegen wolle? Das Honorar habe ich auf 150 Rth. festgesetzt, was mir, da ich für jedes der 3 Claviertrios 200 Rth. bekommen habe, der rechte Preis zu seyn scheint. [...]
Zugleich bitte ich, die Sonate vorläufig Mendelssohn zu zeigen, sie sich von ihm vorspielen zu lassen und mir dann aufrichtig zu schreiben, wie sie Ihnen vorgekommen ist. Das Scherzo wird wohl der beste Satz seyn.
Unsere Concerte haben in diesem Winter einen so günstigen Erfolg gehabt und so allgemeine Theilnahme erregt, daß wir im nächsten Winter den Versuch mit achten machen wollen. Um diese würdig auszufüllen mit Ouverturen und Sinfonien, werden wir wieder in Leipzig betteln müssen, wozu ich schon im Voraus um Ihre Vermittlung bitte. — Von Wien, Prag, Stuttgart, Carlsruhe, Hamburg und Frankfurt ist mir angezeigt worden, daß meine Doppelsinfonie4 einstudirt wird und ich bin nun recht begierig zu erfahren, was für eine Aufnahme sie finden wird! Die Orchesterstimmen und Partitur des Oratoriums5 werden Sie nun hoffentlich erhalten haben. Die Absendung hatte sich verzögert, weil die Academie6 mit meiner Bewilligung eine Abschrift der Partitur genommen hat. Herzliche Grüße an Ihre liebe Frau. Ganz der Ihrige.
 
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Hauptmann an Spohr, 28.02.1843. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 16.03.1843, aus dem sich noch ein derzeit verschollener Brief von Hauptmann an Spohr erschließen lässt, dessen Postweg sich mit dem dieses Briefs überschnitten haben dürfte.
 
[1] Vgl. Spohr an Hauptmann, 08.01.1843.
 
[2] [Ergänzung 17.06.2020:] Vgl. Christian Rudolph Wessel an Spohr, 04.11.1828 und 17.12.1842.
 
[3] [Ergänzung 17.06.2020:] Spohr zitiert nicht ganz korrekt: „weil wie es mir scheint sein Zweck war Ihnen eine Skizze zu einer solchen Composition einzusenden wonach die Sonate eine etwas andere Form von der jezt gebräuchlichen erhalten haben würde. Diese Skizze hat mein Schwager den Augenblick nicht finden können, weswegen sie Ihnen ein andermal zukommen soll“ (Christoph Rudolph Wessel, 24.02.1843).
 
[4] Irdisches und Göttliches im Menschenleben.
 
[5] Da Spohr in seinem Brief an Hauptmann vom 16.03.1843 erklärt, die Solostimmen seien zuvor nach Hechingen verliehen gewesen (bevor das Material für die im Folgenden erwähnte Aufführung der Singakademie nach Berlin ging, vgl. Thomas Täglichsbeck an Spohr, 27.11.1842) muss es sich um Des Heilands letzte Stunden handeln.
 
[6] Singakademie Berlin (vgl. Anm. 5).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.12.2016).