Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck 1: „Musikalische Briefe von Moritz Hauptmann. III. an Spohr“, in: Grenzboten 29.2 (1870), S. 177-190, hier S. 186f.
Druck 2: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 13ff.

Leipzig, 28. Februar 1843.

Lieber Herr Capellmeister!

{…} Ich komme eben aus einem Concert des Parish Alvars des Harfenvirtuosen1, vielleicht des größten, den es gibt, aber wir sind doch nach dem ersten Stück des zweiten Theils, der Ouvertüre „Ossiansklänge" von Gade, herausgegangen; über das Instrument kann er doch nicht hinaus und an dem haften, um Alles darauf machen zu wollen, zu viele Mängel. Je besser der Triller auf der Harfe gemacht wird, desto deutlicher wird es, daß man keinen machen soll. Ausklingende Piano-Accorde in Arpeggien möchte allenfalls etwas sein, was die Harfe eigentümlich schöner als das Pianoforte hat, (die Harfencompositionen müßten gegen die Claviercompositionen einfacherer Natur sein, mehr im Charakter der Palme als des Eichbaums), in allem andern steht sie im Nachtheil, und der reiche complicirte Mechanismus, nicht um etwas schön spielen zu können, nur um die Möglichkeit zu erlangen, etwas zu spielen, ist gerad recht ihre Armuth und es ist kein Wunder, wenn sich so wenige damit befassen wollen. Dabei ist es wieder das einzige von allen unsern modernen Instrumenten, was an sich eine gute Gestalt hat, dem Spieler eine gute Gestalt gibt und anmuthige Bewegung gestattet, das einzige, was keine kleinliche oder keine Unform hat und zu dem ein idealeres Costüm noch besser stehen würde als unser verzwicktes. Man könnte sich einen Sarastro, die Pedale abgerechnet, recht gut mit der Harfe, viel weniger mit der Geige oder Oboe denken2. — Im nächsten Concert wird die Symphonie von Gade gegeben3, die Ouvertüre ist recht hübsch, aber noch lange kein Meisterstück, sie hört sich noch etwas stückweis an und hat in ihrem Verlauf keinen rechten dominanten Höhepunkt, etwas näher schwer zu bezeichnendes, das guten Sachen nicht fehlt, ohne sich hier sehr bemerkbar zumachen, aber den Mangel fühlt man deutlich. So scheinen die Bach'schen Fugen und Motettensätze in einem ganz gleichartigen Stimmgeflechte fortzugehen vom Anfang bis zum Ende, so sieht es auf dem Papier aus, aber wenn man sie hört und Anderes dagegen hört, dann ist das eine ein herrlicher Baum, das andere ist Gesträuch und Gestrüpp, was nicht von der Erde weg will, nur in die Breite, nie in die Höhe geht und es nirgends zu einem Gipfel bringt. So war neulich der 5stimmige Psalm „Du bist's etc.“ von A. Romberg (der auch im Cäcilien-Verein gesungen wird) in der Thomaskirche als Motette, gegen jene grundkräftigen Sachen von ganz kümmerlicher Wirkung, so hübsch er auch von vornherein klingt; aber es wird eben nichts daraus, und vom zweiten Theil, von der Fuge möchte ich wiederholen, was ich eben vom Harfentriller gesagt habe, es ist eine mühevolle Stückelei, die nie in den Zug kommt und sich eben so mühsam anhört, als sie gemacht ist. Dagegen war ein Stück von Giov. Gabrieli, was ich am Sonnabend singen ließ, sechsstimmig, von der schönsten Wirkung, die Thomaner hatten { selbst} ihre große Freude daran. — Neulich war Berlioz wieder hier von Dresden und führte das Offertorium eines Requiems aus4, eine Art Instrumentalfuge oder fugirter Satz in langsamem Tempo in d-moll, wozu der Chor unisono nichts als a und b zu singen hat <in dieser Figur > Das kommt an die hundertmal, immer mit Zwischenpausen, länger oder kürzer, ohne selbständige Bestimmung, nur wie es gerade die Harmonie zuläßt, nach einander vor, zuletzt löst sich's in einen harmonischen Dur-Schluß auf, bei dem nach der langen Pein den Leuten so wohl wurde, daß viele nach dem Ende glaubten, etwas Schönes gehört zu haben; es ist aber ein ganz gesuchtes und innerlich unmusikalisches Ding und macht höchstens den Eindruck, als wenn es eine Kirchenmusik vorstellen sollte, etwa einen Mönchszug auf dem Theater oder so etwas. Dazu wärs wieder besser als wenn einer eine wirkliche auf's Theater bringen wollte, die sich wie alles blos wahre, da ausnimmt wie die lebendige Eule im Freischützen5 oder des Kurprinzen Zapfenstreich im Wasserträger.6 Mit der wirklichen Kirchenmusik, so weit man das Feld auch stecken mag, hat es aber bei den Franzosen keine Gefahr, sie haben nie eine gehabt, was daran ächtes in Cherubini ist, hat er als Italiener zugebracht. Kirchenmusik haben nur die alten Niederländer, die Italiener und Deutschen {...

M. H.}



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 23.02.1843. Spohr beantwortete diesen Brief am 13.03.1843.
Der Text ist aus beiden Textfassung kompiliert. Ergänzungen von Druck 1 gegenüber Druck 2 sind mit geschweiften Klammern { } kenntlich gemacht, Ergänzungen von Druck 2 gegenüber Druck 1 mit dreieckigen <>.
Spohrs Vor- und Antwortbrief machen wahrscheinlich, dass sich Hauptmann in den in den Drucken ausgelassenen Passagen noch zu Spohrs Wunsch äußert, ihm die Leihe von Felix Mendelssohn Bartoldys Sinfonie op. 56 zu vermitteln.

[1] Zum Konzert am 27[sic!].02.1843 vgl. Bert Hagels, Konzerte in Leipzig 1779/80-1847/48, Berlin 2009, Anhang (Pdf-Datei auf CD-Rom), S. 1101f.

[2] Die kritische Haltung Hauptmanns wird verständlich, wenn man die Begeisterung Berlioz dagegenhält, den Hauptmann wiederum ebenfalls ablehnte: „Er ist der Liszt der Harfe! Man kann sich nicht vorstellen, was er an graziösen oder energischen Effekten, an originellen Läufen, an unerhörten Klangwirkungen zu erreichen vermag, […] Der Vorzug der neuen Harfen, daß man mittels einer zweifachen Bewegung der Pedale zwei Saiten auf denselben Ton stimmen kann, hat ihn auf Kombinationen gebracht, die, wenn man sie geschrieben sieht, unausführbar erscheinen.“ (Hector Berlioz, Memoiren, Königstein/Taunus 1985, S. 281f.).

[3] Vgl. „Achtzehntes Abonnementconcert d. 2ten März”, in: Neue Zeitschrift für Musik 18 (1843), S. 121f.; „Dur und Moll”, in: Signale für die musikalische Welt 1 (1843), S. 78; Clara Schumann, Tagebucheintrag 02.03.1843, in: Robert Schumann, Tagebücher; Bd. 2, hrsg. v. Gerd Nauhaus, Frankfurt am Main 1982, S. 259.

[4] Der Rezensent der Neuen Zeitschrift für Musik geht nur auf die ebenfalls in diesem Konzert am 23.02.1843 aufgeführte Lear-Ouvertüre von Berlioz ein („Concert zum Besten der Armen”, in: Neue Zeitschrift für Musik 18 (1843), S. 117f.).

[5] Möglicherweise spielt Hauptmann hier auf eine Kasseler Aufführungstradition an; zumindest äußerte er sich in seiner Zeit als Kasseler Theatermusiker in seinem Brief an Franz Hauser, 19.06.1833: „Man muß doch Respect haben für ein Volk [...] dem man es nicht erst theoretisch vorzudemonstriren brauchte, daß bloße Naturnachahmung noch keine Kunst sei, die eine lebendige Eule im Freischützen schwerlich interessanter gefunden hätten, als eine papierne, wie es bei uns geschieht, wenn sie überhaupt an einer Wolfsschlucht so viel Interesse genommen hätten, als unsere Zeit” (in: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomsschule zu Leipzig an Franz Hauser, hrsg. v. Alfred Schöne, Bd. 1, Leipzig 1871, S. 106-110, hier S. 109). Lothar Schmidt zufolge ziele Hauptmanns Kritik zwar vordergründig auf die von Carl Maria von Weber geforderte Wahrheit des Bühnenbilds, meine zugleich aber auch Momente des Tonsatz' (Organische Form in der Musik, Kassel 1990, S. 285).

[6] Deutscher Titel zu Les deux journées von Luigi Cherubini. Kritik an einer naturalistischen Darstellung dieser Szene äußert August Lewald: „Einen ähnlichen Statistenunfug sah ich auch einst im Wasserträger, wo der bekannte militärische Zwischenakt mit dem Trommelwirbel hinter der Gardine scenisch versinnlicht wird, durch Zapfenstreich und dergl., was man alle Tage in weit größerer Vollendung auf den Gassen sehen kann” („In die Scene setzen”, in: Allgemeine Theater-Revue 3 (1838), S. [249]-308, hier S. 293).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.12.2016).