Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: „Briefe von Friedrich Kühmstedt“, in: Urania 51 (1894), S. 5f., 22, 30f., 38f., 45f., 61f. und 86f., hier S. 45f.

Mein hochgeehrtester Meister!

Ich nehme mir die Freiheit Ew. Wohlgeboren das 5te Heft vom Gradus ad Parnassum und zugleich den ersten Theil eines neuen Werkchens „Die Kunst des Vorspiels“ von mir zu übermachen. Zwar belästige ich Sie hierdurch schon wieder, aber das müssen Sie mir schon zu Gute halten. Weiß ich doch nicht, wie ich auf eine andere Weise Ew. Wohlgeboren meine Hochachtung und Liebe zu erkennen geben soll. Aber dies muß ich: mein Inneres zwingt mich dazu.
Was nun mein beiliegendes Opusculum betrifft, so wünsche ich, daß es Ihnen seiner Tendenz nach, über welche dem Werkchen eine kurze einleitende Bemerkung vorangedruckt ist, der Berücksichtigung nicht ganz unwerth erscheinen möge. Zugleich lege ich, und ich glaube das ebenfalls Ew. Wohlgeboren schuldig zu sein, den Brief1 von Mendelssohn bei, mit dem er mir meine Symphonie wieder zurückschickte. Mendelssohns Urtheil hat mich wirklich im höchsten Grade verstimmt, denn er spricht, so freundlich es auch abgefaßt ist, mir und meiner Arbeit Alles u. Jedes ab, u. wirft mich ohne Weiteres in die Klasse der allerersten Anfänger.
Dann ist mir wieder einiges unverständlich, namentlich das was er das Unmotivirte nennt, was ich eben deshalb roth angestrichen habe. Worauf soll sich das „Unmotivirte“ beziehen? auf die Form? Da glaube ich gerade, daß nach der Umarbeitung die einzelnen Sätze gehörig abgerundet und in ein richtiges Verhältnis zu einander gekommen sind. Ebenfalls will es mir scheinen, als träte die Idee ziemlich klar u. deutlich hervor. Auch habe ich nach den Bemerkungen von Ew. Wohlgeboren die ganze Instrumentation noch einmal durchgearbeitet. Wenn daher Mendelssohn Recht hätte, so wäre ich ja in der That ganz unfähig eine Idee zu fassen, es fehlte mir alles musikalische Talent.
Gleichwohl muß ich glauben, Mendelssohn hat diese Symphonie nicht genau durchgelesen, denn es waren noch einige Blätter vom Buchbinderleim zusammengeklebt. Sollte man auch wirklich durch das bloße Lesen eines musikalischen Werkes, besonders in Partitur, eine vollständige Anschauung erhalten? Würde nicht Mendelssohn doch vielleicht anders geurtheilt haben, wenn er das Werk nicht bloß gelesen, sondern auch gehört hätte?
Was sagen nun Ew. Wohlgeboren zu Mendelssohns Urtheil? Was ist Ihre eigentliche Ansicht von meinem Werke? Das sind zwei Fragen, die wirklich jetzt mein ganzes Nervensystem in Spannung versetzen, u. ich kann es nicht unterlassen, sie an Ew. Wohlgeboren zu thun. Hat Mendelssohn recht, was ich aber nur dann erst glaube, wenn es Ew. Wohlgeboren bestätigen, so mache ich auf der Stelle einen Versuch mit einer zweiten Symphonie. So schnell gebe ich mich denn doch nicht auf. Ew. Wohlgeboren möcht' ich daher, sollten Sie einige Augenblicke Zeit haben, u. geneigt sein, mir ein paar zu schenken, wirklich recht dringend gebeten haben, mir Ihre unumwundene Meinung darüber zu schreiben, u. mir, wenn Sie anderer Meinung wären als Mendelssohn, zugleich einen guten Rath zu ertheilen, wie es anzufangen sei, daß doch diese Symphonie, die ich jetzt nicht anders zu machen weiß, zur Öffentlichkeit gelangt.
Hoffend, daß mir Ew. Wohlgeboren einige Theilnahme schenken, bin ich

mit unbegrenzter Liebe u. Verehrung
Ew. Wohlgeboren ganz ergebenster

F. Kühmstedt

Eisenach am 15tn Fbr
1843.

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Kühmstedt, Friedrich : Gradus ad Parnassum
Kühmstedt, Friedrich : Die Kunst des Vorspiels
Kühmstedt, Friedrich : Sinfonien, Nr. 1
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843021540

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 27.01.1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 06.03.1844.

[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen (vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 9, hrsg. v. Stefan Münnich, Lucian Schiewietz und Uta Wald unter Mitarb. v. Ingrid Jach, Kassel u.a. 2015, S. 187 und 601).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (15.07.2020).