Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: „Briefe von Friedrich Kühmstedt“, in: Urania 51 (1894), S. 5f., 22, 30f., 38f., 45f., 61f. und 86f., hier S. 61f.


Wohlgeborner Herr!
Mein hochzuverehrender Herr und Meister!

Endlich, endlich ist meine Symphonie fertig, und ich denke, Sie, mein lieber, herrlicher Meister, Sie sollen Ihre Freude daran haben. [U]nd1 dies ist ja mein Ziel, wonach ich strebe, denn ich fühle, daß Schiller recht hat, wenn er sagt: Wer den Besten seiner Zeit genug gethan, hat für alle Zeit etwas Gutes gewirkt.
Ich habe das Ganze noch einmal durchgearbeitet. Im Finale ist2 vieles gestrichen und der Schluß desselben ganz anders geworden. Das Scherzo wurde etwas mehr ausgeführt pp. Genug, ich bilde mir jetzt ein, die Sache wird sich so machen. – Ich bin aber auch so frei – und Sie zürnen mir gewiß nicht darüber – das Werk mit den vollständigen Stimmen Ihnen mit der ergebensten Bitte zu übermachen, es selbst an Mendelssohn, oder wohin es in Leipzig kommen muß, zu schicken. Wenn es von Ew. Wohlgeboren kommt, so hat das Ding einen ganz andern Klang, und ich kann mich der Hoffnung hingeben, daß es in3 einem der jetzigen Concerte noch zur Aufführung kömmt,4 woran mir so sehr viel liegt, indem mir dadurch wohl am Ersten die Aussicht eröffnet werden dürfte, meine jetzige, jämmerliche Stellung mit einer meinem Streben angemesseneren zu vertauschen – (Vielleicht könnte ich nach Leipzig kommen, da wie ich gelesen, dort unter Mendelssohns Leitung ein Conservatorium der Musik errichtet werden soll.) – Ich wollte schon, als ich in Cassel war, Ew. Wohlgeboren darum bitten, allein es weiß der liebe Himmel, wenn ich Ew. Wohlgeboren gegenüber stehe, da bin ich so verblüfft, daß mir kein gescheutes Wort über die Zunge geht. Ich bitte Sie also noch einmal recht schön darum. Ich will mir auch alle Mühe geben, der Beste der Schüler Ew. Wohlgeboren zu werden. Mit beiligendem Gelde mögen Sie gütigst die Portokosten pp. bestreiten, und das etwa Uebrigbleibende dem Drescher übermachen.
Noch möchte ich Ew. Wohlgeboren ergebenst gebeten haben, beiliegenden Brief an Mendelssohn, an den Ew. Wohlgeboren doch wahrscheinlich schreiben, in den Ihrigen einzuschließen.5 Sein Inhalt, den ich Ew. Wohlgeboren mitzutheilen für Pflicht halte, ist folgender:

Wohlgeborner Herr!
Hochzuverehrender Herr General-Musikdirektor!

Obwohl die Kunst nur um ihrer selbst Willen da ist, und auch nur um ihrer selbst Willen von dem Künstler gepflegt und getrieben werden soll; so ist doch keineswegs zu leugnen, daß Anerkennung Anderer, und selbst pecuniärer Vortheil Elemente sind, die von jedem Künstler, besonders solchen, die, in ungünstigen Verhältnissen geboren, immerwährend mit unsäglichen Hindernissen zu kämpfen haben, durchaus zu berücksichtigen sind. Besteht ja doch unser Leben selbst nur durch die Verhältnisse fort, in denen wir zu andern Individuen stehen, welche unter6 denselben geistigen u. physischen Gesetzen, mit einem Worte, unter gleichen Bedingungen existiren. Was vermöchte der Mensch, wollte er stolz davon abstrahiren?! Zur Erreichung eines Zweckes gehören auch zweckmäßige Mittel. Ohne Geld zB. der Nervus rerum, kann man nicht einmal etwas Gutes thun. Ohne Geld gleicht man in unserer Zeit einem Vogel mit gebundenen Fittichen, einem Fisch auf trockenem Sand. – Doch wozu schreibe ich Ihnen das Alles? Nur eigentlich um meinem Brief und die in demselben ausgesprochene Bitte an Ew. Hochwohlgeboren zu entschuldigen. – Ich meine nämlich, Sie, durch den Leipzig wirklich zum Mittelpunkt des deutschen Musiklebens erhoben worden ist, Sie werden wohl sehr oft von Künstlern aller Art auf ähnliche Weise, wie ich es in diesem Briefe thue, belästigt werden. Obgleich dies sehr natürlich und zu entschuldigen ist, so kann ich mir doch wol denken, daß unter den Ew. Wohlgeboren um Verwendung, Berücksichtigung etc. pp. Bittenden, viele auf einer noch zu untergeordneten Stufe der Kunst stehen, als daß sich Ew. Wohlgeboren durch sie nicht wirklich7 belästigt fühlen sollten.
Deß ungeachtet wage ich es aber, unter der Fürsprache des Herrn Kapellmeister Spohr, Ew. Wohlgeboren zu ersuchen, beiliegende erste Symphonie von mir noch in einem der laufenden Gewandhausconcerte in Leipzig, unter ihrer eigenen Direction zur Aufführung zu bringen. Ich verspreche mir davon gerade großen Vortheil, denn – und warum sollte ich es denn nicht gestehen! – meine Verhältnisse, in denen ich8 als Musikdirektor in Eisenach stehe, sind von der Art, daß ich bei längerem Verweilen in denselben körperlich und geistig zu Grunde gehen muß, da mir hier alle Mittel und Wege radical abgeschnitten sind, mein musikalisches Talent, mag dies nun von einiger Bedeutung sein9 oder nicht, geltend zu machen. Gleichwohl bin ich noch zu jung (33 Jahre) und geistig auch nicht gerade verwahrlost, um nicht Alles aufzubieten, mein besseres Selbst zu retten.
Was nun meine Symphonie betrifft, so wage ich es nicht über sie ein Wort zu sprechen. Der Herr Kapellmeister Spohr, unter dessen Leitung sie schon einmal in Cassel zur Aufführung kam10, u. der auch mein musikalisches Können genau kennt, wird Ew. Wohlgeboren das Nöthige bemerken.
Nur noch Eins bitte ich Ew. Wohlgeboren noch, nämlich: mich wissen zu lassen, wann meine Symphonie zu Gehör gebracht wird, denn es liegt mir jetzt Alles daran, Sie unter der Leitung Ew. Wohlgeboren zu hören.
In der Hoffnung pp. pp.

Wie soll ich mich nun aber bei Ihnen mein väterlicher Freund und Gönner wegen meiner abermaligen Zumuthungen entschuldigen? – ich weiß u. kann es nicht; meine Schuld ist zu groß. Doch meinen Dank und meine Verehrung wird Ihnen bis in die andere Welt folgen.
Mit der Bitte noch, mich Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlen, bin ich mit unbegrenzter Liebe und Hochachtung
Ew. Wohlgeboren
ergebenster

F. Kühmstedt

Eisenach am 27tn Januar
1843.

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Drescher, Emil
Mendelssohn Bartholdy, Felix
Schiller, Friedrich
Erwähnte Kompositionen: Kühmstedt, Friedrich : Sinfonien, Nr. 1
Erwähnte Orte: Kassel
Erwähnte Institutionen: Gewandhaus <Leipzig>
Konservatorium <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1843012740

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 26.08.1842. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 15.02.1843.

[1] Textverlust durch Ausriss.

[2] „ist“ über der Zeile eingefügt.

[3] Hier gestrichen: „d“.

[4] Zu einer Aufführung von Kühmstedts Sinfonie in Leipzig kam es offenbar nicht.

[5] Vgl. Spohr an Felix Mendelssohn Bartholdy, 30.01.1843.

[6] „unter“ über der Zeile eingefügt.

[7] „wirklich“ über der Zeile eingefügt.

[8] Hier gestrichen: „hier“.

[9] „sein“ über der Zeile eingefügt.

[10] Zu dieser Aufführung am 04.11.1842 in Kassel vgl. „Friedrich Kühmstedt”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 45 (1843), Sp. 87-90, hier Sp. 87ff.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (07.07.2020).