Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,274
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 258 (teilweise)

Sr. Wohlgeboren
Hofkapellmeister Spohr
Cassel
in Hessen.


Ffurt am 5 Januar 1843.

Theurer Freund!

Zu meinem Bedauern kann ich Ihnen die Bach’sche Passion nicht zusenden. Die Herrn Vorsteher des Cäcilienvereins sind zwar bereit zu aller Dienstwilligkeit, allein nach dem nächsten Conzert welches in 14 Tagen statt finden wird, soll die Passion vorgenommen werden, u. gegen Ostern aufgeführt werden. –
Ihre beiden letzten Sinfonien sollen in den beiden nächsten Museen zur Aufführung kommen, worauf ich mich sehr freue, dagegen thut es mir leid, daß Sie dem guten Pfarrer Sprüngli kein Quartett geben können.
Ernst ist ein ausgezeichneter Virtuose, der die Tugenden und Laster des neuen Virtuosentums übt. Unter die letzteren rechne ich den Vortrag schlechter Compositionen.1 – Die Geschwister Milanollo sind wunderbare Wesen! man wird über diese Erscheinung viel schreiben und noch mehr sprechen können, allein es ist nicht möglich, den Eindruck wiederzugeben, den diese Kinder, namentlich die ältere, hervorbringen. Die höchste technische Vollendung, Reinheit, Sicherheit usw. ordnet sich unter, dem Zauber eines wahrhaft magischen Vortrags, wohlverstanden bei der älteren, denn die kleine spielt wie ein Mann, die größere aber wie ein Engel.2 Ich bin nichts weniger als Enthusiast u. man wird ohnedies in neuerer Zeit gegen das moderne Virtuosenthum erbittert und indifferent. Allein hier ist offenbar höhere Weihe u. wahrhaft göttlicher Genuis. Dazu kommen alle Attribute der Gesundheit: kein krankhaftes tempo rubato, kein hysterischer vibrirender Jammer, nein, markiger Ton, kecker, sicherer Bogenstrich u. eine vollendete Auffassung der Komposition im Ganzen wie in allen einzelnen Theilen. Sie hätten gewiß Ihre Freude gehabt, diese Kinder den ersten Satz Ihrer 2ten Conzertante vortragen zu hören, so männlich, so kräftig u. sicher.
Die Meinigen erwiedern herzlichst Ihre Grüße u. Wünsche. Leben Sie wohl

Ihr treuer Fr
WmSpeyer.

Haben Sie doch die Güte Jean Bott meinen Dank zu sagen für die überschickten Compositionen seines Vaters. – Die Männergesänge, das Quartett u. die Sonate werden künftige Woche im Liederkranz zur Aufführung kommen. Die Psalmen wohl etwas später. – Ich werde ihm selbst schreiben. Inzwischen m[Textverlust] Tochter hrzl. Dank.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Speyer, 02.01.1843. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Speyer an Spohr, 27.02.1843.

[1] Vgl. C[arl] G[ollmick], „Frankfurt. Musik im November und Dezember”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 45 (1843), Sp. 90-94, hier Sp. 91

[2] Vgl. ebd., Sp. 92f.; zum direkten Vergleich zwischen Ernst und den Milanollos auch Carl Georg Firnhaber an Spohr, 15.10.1842.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (11.03.2016).

Frankfurt, 5. Januar 1843.

... Ernst ist ein ausgezeichneter Virtuose, der die Tugenden und Laster des neuen Virtuosentums übt. Unter die letzteren rechne ich den Vortrag schlechter Kompositionen.
Die Geschwister Milanollo sind wunderbare Wesen! Man wird über diese Erscheinung viel schreiben und noch mehr sprechen können, allein es ist nicht möglich, den Eindruck wiederzugeben, den diese Kinder, namentlich die ältere, hervorbringen. Die höchste technische Vollendung, Reinheit, Sicherheit ordnen sich dem Zauber eines wahrhaft magischen Vortrags unter, wohlverstanden bei der älteren, denn die kleine spielt wie ein Mann, die größere aber wie ein Engel. Ich bin nichts weniger als ein Enthusiast, und man wird ohnedies in neuerer Zeit gegen das moderne Virtuosentum erbittert und indifferent. Allein hier ist offenbar höhere Weihe und wahrhaft göttlicher Genuis. Dazu kommen alle Attribute der Gesundheit: kein krankhaftes tempo rubato, kein hysterischer vibrierender Jammer, nein, markiger Ton, kecker, sicherer Bogenstrich und eine vollendete Auffassung der Komposition im Ganzen wie in allen einzelnen Teilen. Sie hätten gewiß Ihre Freude gehabt, diese Kinder den ersten Satz Ihrer zweiten Konzertante vortragen zu hören, so männlich, so kräftig und sicher ...