Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck 1: „Musikalische Briefe von Moritz Hauptmann. III. an Spohr“, in: Grenzboten 29.2 (1870), S. 177-190, hier S. 182ff.
Druck 2: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 15-18

Leipzig, den 3. November 1842.
 
Lieber verehrter Herr Capellmeister!
 
<... Die Symphonie von Schubert hat mir sehr gut gefallen, nicht als ein vollendetes Kunstwerk, aber wegen ihres poetischen Gehaltes. Sie ist sehr lang und in allen Theilen zu erschöpfend der Schluß des 1. Satzes wie ein letzter, was ich am wenigsten gern habe, wenn noch etwas zu erwarten sein soll, auch ist gleich von vorn herein zu viel Blech dabei, - und mancherlei könnte vielleicht noch auszusetzen sein; bei alle dem aber ist sie viel interessanter als viele von denen an welchen das tadelhafte nicht so bestimmt zu bezeichnen ist, die einen aber in ihrer regelrechten Mittelmäßigkeit zu einiger Verzweiflung bringen können.>1
Von Herrn Hofrath Rochlitz erhielt ich vor einiger Zeit ein Oratorium „Saul und David" zugeschickt2, es war ihm ein Brief von Ihnen beigelegt3, worin Sie viel zu vorteilhaft von meinen Fähigkeiten sprechen. Ich bin aber aus großen Arbeiten so herausgekommen, aus langen meine ich, daß ich größere als je jetzt zu unternehmen keinen Muth habe und mich erst in kürzeren dieser Art versuchen muß. Ueberdies finde ich Ihre Ausstellungen an diesem Oratorium eben so richtig als erheblich; ganz allgemein genommen mag ich überhaupt die Männerchöre nicht. Es ist eine musikalische Unnatur, Männer vierstimmig singen zu hören, es bleibt immer eine monotone Quälerei. Der vierstimmige Gesang ist für Männer und Frauen, und daß die Herren an ihren Liedertafeln sich allein amüsiren wollen, daß man dieses Abschließen der Musik anhört, ist eben das Unschönste daran. Am Oratorium mißfällt mir aber hauptsächlich die gar zu theatralische Disposition; es ist ohne Scenarium gar nicht verständlich. Da an einem Oratorium nichts zu sehen ist, sollte auch keine Scene dazu gedichtet werden, dramatisch könnte es deshalb doch gedacht sein. So sind die von Metastasio mit handelnden Personen, ohne daß man jedoch an eine bestimmte Räumlichkeit erinnert wird. Am liebsten ist mir die Art wie der „Messias“, „die letzten Dinge“, „Paulus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am günstigsten, als er hier weniger versucht ist, in das Theatralische zu gerathen, worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Styls geltend machen will, als früher, wo zwischen einer Oratorien-Arie und einer ernsten Opern-Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist. {Das Oratorium liegt noch bei mir, ich gebe es aber in diesen Tagen zurück.} Hofrath Rochlitz ist unser ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich. Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen Hymnus von Gallus (dem deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein „Salve Regina". Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der vier Präfecten dirigirt, und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Herkommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen, jeder Wochenpräfect sucht es an Auswahl und Ausführungen den andern zuvor zu thun. Es ist, seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichardt noch nichts Schlechtes vorgekommen, obwohl des ganz Erfreulichen dieser Gattung nicht eben viel vorhanden ist. Ich hoffe, daß wir künftig Ihre Psalmen singen können, für‘s Erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein Singen gehört musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen, der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina:
<[Nbs]
Mechanisch genommen scheint's gar nicht zu verfehlen, in der Ausführung ist es immer eine Pönitenz4; es liegt die Schärfe in der Vocalintonation nicht, die hier zum Verständniß gehört, und manches andere ist Ursache.> Wenn es klänge, wär's mir lieber, als daß ich weiß, warum es nicht klingt. Daß aber zu einer Vokalmusik, um sie ausführbar zu machen, allezeit ein Clavier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung, und die Aelteren hatten so unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr bestimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als wenn offenbare Octaven und Quinten dastünden. Dabei könnte man doch reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungen den Kopf, aber ich weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden.
{Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern im fünften Concert gehört,} <Ich habe die Schumann'sche Symphonie vorgestern im 5. Concert gehört,>5 und es freut mich, daß Sie Ihnen auch bekannt werden soll — langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina, die man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr anregend und unterhaltend ist. {-Verholst ist von Leipzig abgereist und geht nach Holland zurück. Er ist ein eigener, lebhafter Mensch, sehr enthusiastischer Natur. Musikalisch habe ich von ihm Nichts kennen lernen, er kam vor nicht langer Zeit erst von einer Reise zurück und ich habe ihn wenig gesehen.6 Wenn ich mehr Lust zum Schulmeistern hätte, als ich sie habe, könnte ich hier wieder viel solche Beschäftigung finden. Es ist eigen, wie eine so falsche Meinung, daß ich ein guter Lehrer sei, sich so dauernd erhalten kann; ich habe keine Ader dazu. Denn das ist noch lange kein Beruf, wenn einer oder der andere nicht ganz ohne Nutzen Unterricht gehabt hat, der vielleicht auch ohne Unterricht eben so weit gekommen wäre. Wie viele nichts Ordentliches bei mir gelernt, weiß ich am Besten. Daß die gekrönten Schüler, die grand prix des Pariser Conservatoriums, in der Composition auch oft noch sehr im Unklaren sind, wie ich's an drei Individuen sehr genau habe kennen lernen — kann mir für die Anwendung von meiner und der Schüler Zeit keine Satisfaction geben. — Vor meinem Fenster wird jetzt S. Bach ein Monument gesetzt. Wolf7 würde aber wenig davon erbaut sein. Die Büste Bach's, welche in einer Nische steht, ist das Beste daran.}
<... Daß die Jungens X. und Z.8 sich so wacker halten, hat mich zu hören sehr erfreut. Z. wird leichter und eben zu leicht mit etwas fertig. Dem X, sprudelt es auch nicht übermäßig, aber er scheint mir doch profunder und bei der Mäßigkeit seines Talents kommt ihm die bessere Schulbildung sehr zu Statten, nicht daß er Lateinisch und Griechisch gelernt, aber daß er dabei mit dem Kopf hat arbeiten müssen, sich nun etwas überlegen und über etwas nachdenken kann, daß er einen Begriff von einem Begriff hat. Das fehlt dem Z., der immer blos mit dem Gefühl und mit den Fingern gearbeitet hat, und dem jedes Ding ein einzelnes für sich bleibt. — Eine der hübschesten deutschen leichten Opern habe ich neulich gesehen, es ist Czaar und Zimmermann. Sie ist ganz im guten komischen Opernstyl ohne alle Gemeinheit. Die schwache Seite ist vielmehr an den sentimentalen Stellen und an einigen wo der Componist ins Pathetische geräth zu suchen. Dabei ist alles sehr gewandt und wohlklingend gesetzt, singt und spielt sich vortrefflich und ist im Ganzen vom besten Eindruck. ...>
 
M.H.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 28.10.1842. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 01.12.1842.
Druck 2 datiert diesen Brief auf 1843. Die richtige Datierung 1842 nach Druck 1 ergibt sich aus den im Brief genannten Aufführungen von Schuberts C-Dur-Sinfonie D 944 bei den Gewandhaus-Konzerten am 09.10.1842 und Schumanns Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 im 5. Abonnementkonzert am 03.11.1842. Der Text ist aus beiden Textfassung kompiliert. Ergänzungen von Druck 1 gegenüber Druck 2 sind mit geschweiften Klammern { } kenntlich gemacht, Ergänzungen von Druck 2 gegenüber Druck 1 mit dreieckigen < >.
[Ergänzung 24.06.2020: Aus Hauptmann an Robert Schumann, 05.11.1842 (in: Robert und Clara Schumann im Briefwechsel mit Moritz Hauptmann und der Bachgesellschaft zu Leipzig 1831 bis 1853, hrsg. v. Annegret Rosenmüller, in: Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Korrespondenzten in Leipzig 1830 bis 1894 (= Schumann Briefedition II,20), Köln 2019, S. 455-503, hier S. 468f.) folgt, dass er Spohr in der Nachschrift dieses Briefs vom gleichen Tag außerdem mitteilt, dass die Direktion der Gewandhaus-Konzerte die Stimmen von Schumanns Sinfonie nicht besitzt, aber Schumann bereit ist, ihm Partitur und Stimmen seiner Sinfonie zu leihen. Da Spohr in seinem Vorbrief außerdem nach Aufführungsmaterial von Franz Schuberts Sinfonie D 944, und den Ouvertüren von Johannes Verhulst op. 8 und William Sterndale Bennett op. 20 fragt, liegt nahe, dass Hauptmann sich auch dazu äußert. Allerdings bekam Spohr über diese Werke am 30.11.1842 Antwort durch Ferdinand David.]
 
[1] Zum Konzert am 09.10.1842 vgl. „Leipzig, den 19. October 1842”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 44 (1842), Sp. 878-881, hier Sp. 881; „Zweites Abonnementconzert, d. 9. Octbr.”, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 146.
 
[2] Rochlitz verstarb nur wenige Wochen später am 16.12.1842.
 
[3] Dieser Brief ist derzeit verschollen.
 
[4] Pönitenz = Reue, Strafe, Buße (vgl. Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter, entstellenden fremden Ausdrücke zu deren Verstehen und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 357).
 
[5] Zum Konzert am 03.11.1842 vgl. „Leipzig, den 19. November 1842”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 44 (1842), Sp. 945-951, hier Sp. 948; „Fünftes Abonnementconzert, d. 3. Novbr.”, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 173f.
 
[6] Vgl. „Vermischtes”, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 154.
 
[7] Spohrs Schwiegersohn Johann Heinrich Wolff war Architekturprofessor an der Kasseler Kunstakademie.
 
[8] Aus Spohrs Vorbrief ergibt sich, dass mit X. und Z. Hugo Staehle und Jean Joseph Bott gemeint sind.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.11.2016).

Leipzig, den 3. November 1842.
 
Lieber verehrter Herr Capellmeister!
 
Von Herrn Hofrath Rochlitz erhielt ich vor einiger Zeit ein Oratorium „Saul und David" zugeschickt, es war ihm ein Brief von Ihnen beigelegt, worin Sie viel zu vorteilhaft von meinen Fähigkeiten sprechen. Ich bin aber aus großen Arbeiten so herausgekommen, aus langen meine ich, daß ich größere als je jetzt zu unternehmen keinen Muth habe und mich erst in kürzeren dieser Art versuchen muß. Ueberdies finde ich Ihre Ausstellungen an diesem Oratorium eben so richtig als erheblich; ganz allgemein genommen mag ich überhaupt die Männerchöre nicht. Es ist eine musikalische Unnatur, Männer vierstimmig singen zu hören, es bleibt immer eine monotone Quälerei. Der vierstimmige Gesang ist für Männer und Frauen, und daß die Herren an ihren Liedertafeln sich allein amüsiren wollen, daß man dieses Abschließen der Musik anhört, ist eben das Unschönste daran. Am Oratorium mißfällt mir aber hauptsächlich die gar zu theatralische Disposition; es ist ohne Scenarium gar nicht verständlich. Da an einem Oratorium nichts zu sehen ist, sollte auch keine Scene dazu gedichtet werden, dramatisch könnte es deshalb doch gedacht sein. So sind die von Metaftasio mit handelnden Personen, ohne daß man jedoch an eine bestimmte Räumlichkeit erinnert wird. Am liebsten ist mir die Art wie der „Messias“, „die letzten Dinge“, „Paulus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componiften insofern am günstigsten, als er hier weniger versucht ist, in das Theatralische zu gerathen, worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Styls geltend machen will, als früher, wo zwischen einer Oratorien-Arie und einer ernsten Opern-Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist. Das Oratorium liegt noch bei mir, ich gebe es aber in diesen Tagen zurück. Hofrath Rochlitz ist unser ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich. Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen Hymnus von Gallus (dem deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein „Salve Regina". Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der vier Präfecten dirigirt, und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Herkommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen, jeder Wochenpräfect sucht es an Auswahl und Ausführungen den andern zuvor zu thun. Es ist, seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichardt noch nichts Schlechtes vorgekommen, obwohl des ganz Erfreulichen dieser Gattung nicht eben viel vorhanden ist. Ich hoffe, daß wir künftig Ihre Psalmen singen können, für‘s Erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein Singen gehört musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen, der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina; wenn es klänge, wär's mir lieber, als daß ich weiß, warum es nicht klingt. Daß aber zu einer Vokalmusik, um sie ausführbar zu machen, allezeit ein Clavier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung, und die Aelteren hatten so unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr bestimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als wenn offenbare Octaven und Quinten dastünden. Dabei könnte man doch reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungen den Kopf, aber ich weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden.
Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern im fünften Concert gehört, und es freut mich, daß Sie Ihnen auch bekannt werden soll — langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina, die man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr anregend und unterhaltend ist. — Verholst ist von Leipzig abgereist und geht nach Holland zurück. Er ist ein eigener, lebhafter Mensch, sehr enthusiastischer Natur. Musikalisch habe ich von ihm Nichts kennen lernen, er kam vor nicht langer Zeit erst von einer Reise zurück und ich habe ihn wenig gesehen. Wenn ich mehr Lust zum Schulmeistern hätte, als ich sie habe, könnte ich hier wieder viel solche Beschäftigung finden. Es ist eigen, wie eine so falsche Meinung, daß ich ein guter Lehrer sei, sich so dauernd erhalten kann; ich habe keine Ader dazu. Denn das ist noch lange kein Beruf, wenn einer oder der andere nicht ganz ohne Nutzen Unterricht gehabt hat, der vielleicht auch ohne Unterricht eben so weit gekommen wäre. Wie viele nichts Ordentliches bei mir gelernt, weiß ich am Besten. Daß die gekrönten Schüler, die grand prix des Pariser Conservatoriums, in der Composition auch oft noch sehr im Unklaren sind, wie ich's an drei Individuen sehr genau habe kennen lernen — kann mir für die Anwendung von meiner und der Schüler Zeit keine Satisfaction geben. — Vor meinem Fenster wird jetzt S. Bach ein Monument gesetzt. Wolf würde aber wenig davon erbaut sein. Die Büste Bach's, welche in einer Nische steht, ist das Beste daran.
 
M. H.

Leipzig 3. November 1843.
 
Lieber verehrter Herr Kapellmeister.
 
[…] Die Symphonie von Schubert hat mir sehr gut gefallen, nicht als ein vollendetes Kunstwerk, aber wegen ihres poetischen Gehaltes. Sie ist sehr lang und in allen Theilen zu erschöpfend der Schluß des 1. Satzes wie ein letzter, was ich am wenigsten gern habe, wenn noch etwas zu erwarten sein soll, auch ist gleich von vorn herein zu viel Blech dabei, — und mancherlei könnte vielleicht noch auszusetzen sein; bei alle dem aber ist sie viel interessanter als viele von denen an welchen das tadelhafte nicht so bestimmt zu bezeichnen ist, die einen aber in ihrer regelrechten Mittelmäßigkeit zu einiger Verzweiflung bringen können.
Von Herrn Hofrath Rochlitz erhielt ich vor einiger Zeit ein Oratorium, Saul und David zugeschickt, es war ihm ein Brief von Ihnen beigelegt, worin Sie viel zu vortheilhaft von meinen Fähigkeiten sprechen. Ich bin aber aus großen Arbeiten so herausgekommen, aus langen meine ich, daß ich eine größere als je zu unternehmen jetzt keinen Muth habe und mich erst in kürzern dieser Art wieder versuchen muß, Ueberdies finde ich Ihre Ausstellung an diesem Oratorium eben so richtig als erheblich. Ganz allgemein genommen mag ich überhaupt die Männerchöre nicht: es ist musikalische Unnatur Mäuner vierstimmig singen zu lassen und bleibt immer eine monotone Quälerei. Der vierstimmige Gesang ist für Männer und Frauen, und daß die Herren in ihren Liedertafeln sich allein amüsiren wollen, daß man dieses Abschließen der Musik anhört, ist eben das Unschönste daran. Am Oratorium mißfällt mir aber hauptsächlich die gar zu theatralische Disposition, es ist ohne Scenarium gar nicht verständlich. Da in einem Oratorium nichts zu sehen ist, sollte auch keine Scene dazu gedichtet werden, dramatisch könnte es deßhalb doch gedacht sein. So sind die von Metastasio mit handelnden Personen, ohne daß man jedoch an eine bestimmte Räumlichkeit erinnert wird. Am liebsten ist mir die Art wie der Messias, die letzten Dinge, Paulus: die episch - lyrische, ich halte sie auch für den Componisten in so fern am günstigsten, als er hier weniger versucht ist in das theatralische zu gerathen: worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Stils geltend machen will, als früher, wo zwischen einer Oratorium - Arie und einer ernsten Opern-Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist.
Hofrath Rochlitz ist unser ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich. Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen Hymnus von Gallus (dem Deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein Salve Regina. Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der 4 Präfecten dirigirt und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Herkommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen: jeder Wochenpräfect sucht es an Auswahl und Ausführung den Anderen zuvorzuthun. Es ist mir, seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichart noch nichts schlechtes vorgekommen, obwohl des ganz erfreulichen in dieser Gattung auch nicht eben viel vorhanden ist. Ich hoffe daß wir künftig Ihre Psalmen singen können, fürs erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein singen gehört musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen, der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina:
[Nbs]
Mechanisch genommen scheint's gar nicht zu verfehlen, in der Ausführung ist es immer eine Pönitenz; es liegt die Schärfe in der Vocalintonation nicht, die hier zum Verständniß gehört, und manches andere ist Ursache. Wenn es klänge wär' mir's lieber, als daß ich weiß warum es nicht klingt. Daß aber zu einer Vocalmusik, um sie ausführbar zu machen allezeit ein Clavier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung, und die Aelteren hatten so Unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr bestimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als wenn offenbare Octaven und Quinten daständen, dabei könnte man doch reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungens den Kopf, aber ich weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden. — Ich habe die Schumann'sche Symphonie vorgestern im 5. Concert gehört, und es freut mich, daß sie Ihnen auch bekannt werden soll, langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina die man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr anregend und unterhaltend ist. [...]
Daß die Jungens X. und Z. sich so wacker halten, hat mich zu hören sehr erfreut. Z. wird leichter und eben zu leicht mit etwas fertig. Dem X, sprudelt es auch nicht übermäßig, aber er scheint mir doch profunder und bei der Mäßigkeit seines Talents kommt ihm die bessere Schulbildung sehr zu Statten, nicht daß er Lateinisch und Griechisch gelernt, aber daß er dabei mit dem Kopf hat arbeiten müssen, sich nun etwas überlegen und über etwas nachdenken kann, daß er einen Begriff von einem Begriff hat. Das fehlt dem Z., der immer blos mit dem Gefühl und mit den Fingern gearbeitet hat, und dem jedes Ding ein einzelnes für sich bleibt. — Eine der hübschesten deutschen leichten Opern habe ich neulich gesehen, es ist Czaar und Zimmermann. Sie ist ganz im guten komischen Opernstyl ohne alle Gemeinheit. Die schwache Seite ist vielmehr an den sentimentalen Stellen und an einigen wo der Componist ins Pathetische geräth zu suchen. Dabei ist alles sehr gewandt und wohlklingend gesetzt, singt und spielt sich vortrefflich und ist im Ganzen vom besten Eindruck. [...]