Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Abschrift: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einer Abschrift von Franz Uhlendorff

Cassel den 28sten
October 1842.
 
Geliebter Freund,
 
Ihr lieber Brief mit seinem interessanten Inhalt hat uns große Freude gewährt, die Sie oft erneuern können, wenn Sie mit Ihren Berichten über die dortigen Kunstereignisse fortfahren wollen. Gern will ich dafür das Wenige berichten, was sich im Gebiet der Kunst hier zuträgt.
Unsere Concerte, deren wir für diesen Winter 6 angekündigt haben, sollen heute über 8 Tage, den 4ten Nov. beginnen. Die Ouvertüre aus dem Sommernachtstraum und die Sinfonie von Kühmstedt werden die Hauptbestandtheile bilden. Außerdem wird unser, neu angestellter Geiger Hilf eine uns noch unbekannte Fantasie von Vieuxtemps vortragen. Die Sinfonie, die sehr schwer ist, besonders für die Geigen und die Blechinstrumente, haben wir schon 2 mal probirt und es wird noch einer Vorprobe bedürfen, damit sie ganz gut geht. Sie hat mir gleich anfangs gefallen, bey den Wiederholungen aber noch mehr. Sie steht im Werth viel höher wie das Oratorium und ich mögte sie, mit Ausnahme der Hartmann’schen, den übrigen Sinfonien, die wir bisher hier im Manuscript gegeben haben, vorziehen. Nur mit der Singstimme im Adagio kann ich mich nicht befreunden und ich fürchte, der Eintritt derselben, so wie ihr baldiges Wiederaufhören werden an’s Lächerliche streifen.2 Kühmstedt ist eingeladen worden, seine Sinfonie hier zu hören und Tags nach dem Concert wollen wir ihm sein Oratorium, jedoch ohne weiterer Zuhörer einzuladen, vorsingen.2 Am Donnerstag vor dem Concerte wird Jessonda gegeben mit der Kramer als Amazili. Dieser ist, zum großen Leidwesen von Kraushaar, der auf dem Wege zu seyn glaubt, aus ihr zu bilden, gekündigt worden.3 Ich tröste mich leichter, da wir Aussicht haben, Dem. Schulz aus Berlin als erste Sängerin zu aquiriren. Sie kommt zu Neujahr zu Gastspiel und hat in Berlin gekündigt. Sollte aus ihrem Engagement nichts werden, was leicht seyn kann, wenn ihre Forderungen zu groß sind, so will ich der Direction ein Gastspiel einer oder beyder Schülerinnen von Polenz vorschlagen, wenn diese bis dahin nicht schon anderweitig plazirt sind. Haben Sie die Güte, ihm dies zu sagen.
Mein neues Trio ist endlich vor einigen Tagen in einer Abendmusikparthie bey mir vom Stapel gelaufen. Da Dotzauer wieder Launen hatte, so mußte ich es mit Knoop einstudiren, der sich anfangs ziemlich ungeschickt anstellte, zuletzt aber doch sehr gut spielte. Es gefiel den Leuten fast besser wie die frühern. Bähr meinte, es klänge so wenig spohr’sch, daß er es nicht als meine Arbeit erkannt haben würde, wenn er es nicht gewußt hätte. Zwei der Sätze, Variationen (statt des Adagio) und das Finale, eine Art wilder Tarantella halte ich selbst für besser, als die ähnlichen Sätze der beyden andern Trio’s. - Ihre beyden Schüler haben unter meiner Leitung auch zwei neue Werke geschaffen, die mir recht viel Freude machen. Staehle hat das seinige, ein Claviertrio, schon in einer Morgenmusik bey mir mit Bott und Knoop gespielt und große Sensation damit gemacht. Da ich ihm alles Gewöhnliche wegstrich und von ihm durch anderes, bessres ersetzen ließ, so ist das Werk wirklich von der Art, daß es sich kann sehen und hören lassen. Bott hat ein Quartett für Streichinstrumente gemacht und soll es in einigen Tagen produciren. Auch mit ihm war ich streng, so daß ein Aufschwung bemerklich ist, doch stehen ihm die Gedanken nicht so zu Gebot wie dem andern.
Wir haben unsern Abonnenten, wie immer, viel Neues versprochen! Um nun bey unsern beschränkten Mitteln Wort halten zu können, müssen wir uns aufs Borgen legen und hauptsächlich zu den Leipzigern unsre Zuflucht nehmen. Wir hoffen, daß Sie aus alter Anhänglichkeit unser Vermittler werden wollen und ich bitte daher gleich, daß Sie bey der Direction oder bey David oder Mendelssohn einiges erborgen wollen, was wir hier noch nicht kennen, z. B. die Sinfonien von Schubert, Schumann, die Ouvertüren von Bennet, Verhulst p.p. Sie wissen ja am besten, was uns fehlt und was wir nicht anschaffen können. Am liebsten wäre mir freilich die neue Sinfonie von Mendelssohn, wenn sie schon zu erlangen ist. Unser 2tes Concert wird in der 2ten Hälfte des November seyn; könnte ich dazu eine Sinfonie oder Ouvertüre oder beydes bekommen, so würde es mir sehr lieb seyn. Ich kann freilich der Concertdirection nichts von den Unsrigen anbieten, weil sie warscheinlich alles was wir haben, auch besitzen wird. Sollte ich in diesem Winter aber noch etwas für Orchester schreiben, so steht es sehr gern zu Diensten. Daß Sie mit Ihrer dortigen Stellung so zufrieden sind, hat uns herzlich gefreuet. Ich zweifle nicht, daß Sie es stets seyn werden. Ihrer lieben Frau unsere besten Grüße.
 
Stets Ihr
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Hauptmann an Spohr, 02.10.1842. Hauptmann beantwortete diesen Brief am 03.11.1842.
 
[1] Zum Konzert am 04.11.1842 mit Schwerpunkt auf Kühmstedts Sinfonie vgl. „Friedrich Kühmstedt”, in: Allgemeine musikalische Zeitungi 45 (1843), Sp. 87-90, hier Sp. 87ff.
 
[2] Vgl. ebd., S. 89.
 
[3] Vgl. die polemische Darstellung in: Hessische Erinnerungen. Aus den Papieren eines verstorbenen kurhessischen Offiziers, Kassel 1882, S. 126.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.11.2016).