Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochwohlgeborener Herr!

Durch meinen Clavierlehrer den Herrn Ober-Organisten, Herrn Adolph Hesse aus Breslau, ward mir Ihre große Güte, und freundliche Bereitwilligkeit, sich jungen hülfloser Anfängerinnen gern anzunehmen bekannt, – und von ihm ward mir auch der Rath mich direkt an Sie zu wenden.
Ich kam nämlich durch die Güte des Herzogs hieher, um meinen ersten theatralischen Versuch als Agathe im Freischütz hier abzulegen, hoffend daß es möglich sei man könne mich hier engagiren – jedoch ist das Opernpersonale hier so vollständig besetzt, daß es keine Möglichkeit ist, mich hier anzustellen – jedoch sagte man mir, daß in Cassel Mangel daran sei – ich wende mich nun daher mit der ganz ergebenenen Bitte an Sie, ob es mir nicht vergönnt sein dürfte einige Maale bei dem dortigen Theater zu singen, und wenn es mögich wäre, und ich gefiele mich dann zu engagiren. Ich mache nicht viel Ansprüche, ich begehre ja nur so viel, daß ich leben kann. Ich bin eine Schülerin Rellstabs, und habe in den Opern, Agathe, Romeo1, Jessonda, Fidelio, und Rezia2 einstudirt. womit ich jede Stunde heraus kann. Es ist doch recht betrübt, daß kein Theater, sich mit einer Anfängerin gern befassen will, und dennoch müssen alle erst einmal anfangen – und wenn man auch noch so fleißig studirt im Zimmer gewinnt man die Routine doch nicht.
Herr Kapellmeister Sie sind ja Vater, und lieben gewiß Ihre Kinder zärtlich, denken Sie sich nun in die Lage meiner Eltern, und erbarmen Sie sich eines ganz hülflosen armen jungen Mädchens Unsere Familie ist leider jetzt so plötzlich verarmt, daß meine unglückliche Mutter sowol als meine Geschwister, der Gnade kalter Verwandten anheim gefallen sind – ich bin die Einzige auf deren Leistungen sich alle ihre Hoffnungen richten, kann ich nicht irgendwo engagirt werden, so können wir betteln gehen – denn eine Geldarbeit zu haben, ist bei der schwachen Bezahlung ganz unmöglich, ich habe alles versucht – ich habe in Berlin durch 9 Monate, ClavierUnterricht und Gesangs Unterricht, ertheilt und nur meine Studien betrieben, um meine Mutter welche ich bei mir hatte ernährem zu können, und es ging demnach nicht – ich mußte die Milde und Unterstützung frremder Menschen in Anspruch nehmen und es wäre gar nicht mehr3 gegangen, hätte nicht vor 2 Monaten, Madame Spatzer Gentiluomo welche mich singen hörte, sich meiner angenommen, und mich bis jetzt bei sich behalten, und weiter ausgebildet. – O nehmen Sie sich meiner an, ich bin nicht ohne Talent, und lerne sehr leicht auswendig, auch gefieil ich hier, troz der Unsicherheit meines Spieles, wie man mir sagte dem Publikum recht wohl – ich ward so glücklich mehrfach applaudirt zu werden, und dennoch, kann man4 mich bey deser, der völlig guten Besetzung halber nicht hier engagiren, dies ist mal aber nicht der Hauptgrund, denn gestern Abend bekam ich von Unbekannten, einen anonymen Brief – in welchem mich ein Mann von der großen Gefahr, des gegen mich ersonnenen Complottes nennt, er sagt mir daß eine intriguente Person, sogar bis zu Herrn von Münchhausen5 gegangen sei, und ihn bewogen habe, mich unter welchen Vorwand es auch immer sei, so gleich von hier zu entfernen, und mich nicht nur nicht zu engagiren, sondern, auch nicht einmal mehr Auftreten zu lassen. Er rieth mir direkt an den Herzog zu gehen – doch wage ich dies nicht, und fürchte ihm unbescheiden zu erscheinen, und möchte ich mich auch nicht gerne so demüthigen daß ich um mein gutes Recht bettelte. Wenn Sie es möglich machen können daß ich nach Cassel komme, dann zeige ich Ihnen diesen famosen Brief – er sagt, ich solle ja nicht fortgehen, und mich darauf stüzten, daß ich im Publikum, sehr und allgemein gefallen habe. Das ist leicht gesagt – doch wenn man so allein und ganz fremd ist, wie ich hier bin, so hülft das bloße Berühmtsein gar nichts, Niemand nimmt sich des Fremden an; denn nichts soll die Theaterintriguen erreichen können.
Nochmals bitte ich Sie inständigst, nehmen Sie sich meiner an, verlassen Sie ein armes Mädchen nicht. Ich bitte Sie dringend Ihre geneigte Antwort zu beschleunigen, damit ich selbige noch im Laufe dieser Woche erhalte, dieweil ich sonst keine Reisegeld mehr haben würde um bis nach Cassel zu gelangen – denn die 10 Louisd’or welche man mir zur Reise hieher schickte, werden mir von meinem Gastspielgeld hier abgezogen, also mri viel bleibt wmir noch übrig – un ich bin doch nun schon 14 Tage hier. Da ich noch nicht gewiß weiß, ob die Intendantur dieser Intrigue folgen wird, und es möglich wäre daß ich vielleicht, dann noch in dieser Woche einmal singen könnte so habe ich gegen alleum Jeden von meinem Briefe geschwiegen, damit ich mir dadurch nicht noch ein zweites Singen verderben möchte.
O Gott daß ich doch gar so arm und verlassen bin – auf meinen Knieen beschwöre ich Sie, um Ihrer eigenen Kinder willen, nehmen Sie sich meiner an, Gott, der Vergelter jeder edlen Handlung wird dies Ihnen reichlich lohnen – denn mein Herz vermag Ihnen ja weiter nichts als den heißesten Dank, darzubringen.
Daß Gott in seiner unendlichen Gnade, Ihr Herz mir günstig stimmen möge, das ich das heißeste brünstigste Gebet, von

Ew. Hochwohlgeb.
tief bekümmerter
Sidonie von Magusch.

Braunschweig
d. 4t 10. 1844.
im Gasthof zum deutschen Hause
No 41.



[1] Rolle in I Capuleti e i Montecchi von Vincenzo Bellini.

[2] Rolle in Oberon von Carl Maria von Weber.

[3] „mehr“ über der Zeile eingefügt.

[4] „man“ über der Zeile eingefügt.

[5] Dem Braunschweiger Intendanten.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.06.2022).