Autograf: Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Bibliothek (D-Bim), Sign. Doc. orig. Louis Spohr 1
Druck: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Versteigerung / Leo Lipmannssohn 48), Berlin 1926, S. 175 (teilweise)

Cassel den 13ten Sept.
1842.

Verehrtester Herr und Freund,

Sie haben mich durch Ihre freundliche Zuschrift und den darin enthaltenen Antrag unendlich erfreut und ich beeile mich auf beydes zu antworten. Vorher muß ich jedoch noch einiges berühren, wovon Sie in Ihrer Zurückgezogenheit nichts erfahren zu haben scheinen. Die beyden von Ihnen gedichteten Oratorien sind doch viel weiter verbreitet, als Sie glauben und namentlich sind die „letzten Dinge” fast allenthalben gegeben worden, wo überhaupt Oratorien gegeben werden können und nicht bloß am Clavier in der Provinz sondern auch bey Musikfesten und andern öffentlichen Aufführungen. Auch des „Heilands letzte Stunden” wurde schon bey mehren Musikfesten aufgeführt unter andern im vorigen Jahr in Luzern1 und vor 3 Jahren in Norwich. Letztere Aufführung leitete ich selbst und hatte die Freude das Werk mit einer Begeisterung aufgenommen zu sehen, wie ich sie in England kaum für möglich gehalten hätte.2 Es heißt in der englischen Bearbeitung „Crucifixion” und ist, wie auch das andre, dort weit verbreitet. Der glänzende Erfolg war Veranlassung, daß man mir den Antrag machte: für das nächste Musikfest im Jahr 1842 ein neues Oratorium zu schreiben und dessen Direction zu übernehmen. Ich nahm den Antrag an und erhielt dazu einen englischen Text von Professor Tailor, demselben, der meine beyden Oratorien, das Vater Unser und viele meiner Opernkompositionen ins Englische übersetzt hat. Da ich kein englisch verstehe, so mußte ich mir den Text deutsch bearbeiten lassen, wodurch es wie ein deutsches Original geworden ist. Das Werk heißt „der Fall Babylons” und wird heute, wo ich dieß schreibe, zu gleicher Zeit in Leipzig bey Breitkopf und Härtel und in London mit der Taylor’schen Rückübersetzung im Clavierauszuge ausgegeben, dem binnen kurzem auch Singstimmen und die deutsche Partitur folgen werden. Die erste Aufführung findet nächsten Donnerstag beym Musikfeste in Norwich statt, die ich leider nicht selbst dirigiren werde, weil mir der Prinz den Urlaub versagt hat, ohnerachtet die Königin von England durch Lord Aberdeen, später den Herzog von Cambridge [in einem eigenhändigen Schreiben]3 und die Bürgerschaft von Norwich ihn für mich erbeten haben! – Eine frühere Aufführung fand mit Bewilligung des Norwich’er Comitté’s vorige Ostern hier statt, weil ich mich nicht entschließen konnte das Werk in die Fremde ab zu schicken, ohne es vorher selbst gehört zu haben.
Um nun diesem Werke Zeit zur Verbreitung zu lassen und nun nicht zu anhaltend in derselben Kunstgattung zu arbeiten, werde ich mindesten noch ein Jahr warten müssen, bevor ich wieder eine ähnliche Arbeit beginne. So gern ich nun auch Ihre neue Oratoriendichtung hätte kennen gelernt, so wage ich doch kaum Sie um deren Einsicht zu bitten, da Sie wohl schwerlich Lust haben werden, Ihre Arbeit so lange ungenutzt liegen zu lassen. Sollten Sie mich aber doch mit deren Zusendung erfreuen wollen, so bitte ich zugleich die Bedingungen hinzuzufügen, unter welchen Sie sie mir überlassen würden.
Mit der innigsten Hochachtung und Freundschaft ganz

der Ihrige
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Rochlitz an Spohr, 08.09.1842. Rochlitz beantwortete diesen Brief am 24.09.1842.

[1] Vgl. „Musikfest der schweizerischen Musikgesellschaft in Luzern”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 43 (1841), Sp. 637ff., hier Sp. 637f.; „Zürich, 21. Juli”, in: Iris im Gebiet der Tonkunst 12 (1841), S. 128; „Schweizerische Musikfest in Luzern”, in: Schweizer-Bote 38 (1841), S. 351.

[2] Rochlitz hätte in Leipzig mindestens folgende Nachrichten über die Aufführung zur Kenntnis nehmen können: „Feuilleton”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 41 (1839), Sp. 802; „Das Musikfest in Norwich”, in: Neue Zeitschrift für Musik 11 (1839), S. 123f. und 126f., hier S. 126; Edward Taylor, „London den 30. September 1839”, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 1 (1839), S. 243ff., hier S. 245. Zu dieser Aufführung zusammenfassend Karl Traugott Goldbach, „,... daß die dabei gehaltene Predigt großentheils gegen sein Oratorium gerichtet war’. Zur Rezeption von Des Heilands letzte Stunden in Großbritannien”, in: Die Oratorien Louis Spohrs. Kontext - Text - Musik, hrsg. v. Dominik Höink, Göttingen 2015, S. 307-339.

[3] Am Rand eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.11.2016).