Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Wohlgeb.
dem Doctor und Hocapellmeister dem
Herrn Louis Spohr
in
Cassel.

par bonté.1


Paris d 4 July 42
Rue Buffault Montmartre 22.

Hochgeehrtester Herr Capellmeister!

Wohl werden Sie mich für undankbar halten, indem ich Ihren letzten, mir so werthen Brief bis heute unbeantwortet ließ; doch konnte mich hiervon auch nur mehrmaliges Unwohlsein nebst einigen Familienangelegenheiten abhalten. Das hier heiße Klima und die verschiedenartige Lebensweise trugen zu ersterem bei. – Ihre gütige Mittheilung von der letzten Symphonie setzte mich ganz in Extase, nicht allein das Neue der Idee, sondern ich rief mir auch wieder wie so oft, die schöne Zeit in’s Gedächtniß, wo ich das Glück hatte den Unterricht des großen Mannes zu genißen, der immer Neues, immer Originelles und immer Größeres schafft! Ich kann mir recht gut denken, wie vollendet Sie, geehrtester Herr Capellmeister diese schwierige und in ihrer Art ganz neue
Aufgabe gelößt haben; ich höre fast die himmlischen Harmonien die, gleich Engels-Chören sich beiden Orchestern entwinden, und wie glücklich möchte ich sein, wenn ich dieß alles einmal unter Ihrer Leitung hören könnte! Man lebt hier mit der deutschen Musik-Welt ganz abgeschnitten, und hört außer Beethoven der oft genothzüchtigt wird, nebst Weber, nichts als französischen oder italienischen Quark. Wie die deutsche Oper hier zu Grund gieng, wird Ihnen längst bekannt sein. Das Loos dieser Leute war schrecklich, doch hat es sich jetzt noch ziemlich vortheilhaft gestaltet. Schumann hat sehr unrecht gehandelt, indem er ein Personal von 80 Personen hierherführte, ohne die annonçirten Autoritäten für die Soloparthien zu haben.2 Natürlich konnte die Oper in dieser Mittelmäßigkeit3 nicht reussiren, der Besuch war schwach, das Personal mißmuthig weil weder Diäten noch Gage gezahlt wurden, so daß mehrere vom Chor 2 Tage keinen Bissen gegessen hatten und fast ohnmächtig wurden. Endlich bekümmerte sich Schumann beinahe gar nichts mehr um seine Leute, der größte Theil fiel von ihm ab, erwählte ein Comité und wollte für sich fortspielen, es kam jedoch nur zu einer einzigen Vorstellung von Fidelio. Während dieser Zeit zahlte Rothschild u. Graf Meklenburg jeden Tag so viel für die Leute, daß sie essen konnen und Schumann wurde nebst seinem saubern Compagnon, dem Pfarrer Christ eingesperrt u schieden heute aus.4 Letzter nemlich ist ein Geistlicher in der Umgegend von Mainz, welcher Schumann Geldvorschüße machte und in Com pagnie mit Schumann trat, indem er bei den dortigen Consistorium Urlaub zu einer Vergnügungs-Reise nahm und Ingognito mit hierher gieng, wodurch er nun schon seines Amtes entsetzt ist und seine Familie von 8 Kindern in eine traurige Lage setzte.5 Mein Cousin Baerwolf, der sich Ihnen bestens empfielt, war Chordirektor bei Schumann und stellt sich nun an die Spitze der noch Uebrigen etwa 30 Personen. Sie sangen 12-14mal in den hier stabilen Concerten für einen Theil der Einnahmen und wurden auch verlangt beim König zu singen wo sie heute an 8 Tagen nicht weniger als 13 Pieçen sangen. Die Chöre waren ausgezeichnet und wurden auch in den vorigen Vorstellungen alle Da Capo verlangt. Jetzt gaben Sie am letzten Donnerstag noch ein Concert wozu man Liszt ersucht hatte zu spielen, welcher dann auch mit der größten Bereitwilligkeit 4 mal spielte.6 Ein reicher Baron gab das Local umsonst, die Damen Rothschild und mehrere Gräfin7 nahmen das Protectorat, und so fiel dieses sowol der Art aus, daß 7000 Franken reiner Ueberschuß war, so, daß die Choristen ein jeder an 200 Frank u. die Comité-Mitglieder das doppelte erhielten und nun getrost abreißen können. Liszt spielte unvergleichlich, es kann kaum ein größerer Mechanicus existiren, er ist hier mit einer Gräfin8 verheirathet mit der er 3 Kinder hat. Außerdem waren noch 2 Concerte von Thalberg merkwürdig, in denen es der Lorberkränze regnete. Er spielte in der Opera Ialien. Sein Mechanismus ist vollendet, alles glatt u. elegant aber – kalt.9 Er erhielt vom König das Ehrenkreuz. Eine sehr beachtungswerthe Erscheinung jedoch war der Contrabassist Hindle aus Wien. Ein zweiter Paganini. Eine Mechanik die der von P. nichts nachgiebt, denn er spielte Schwierigkeiten auf seinem freilich dünner als die gewöhnlichen Bässe, welche auf der Violine schwer auszuführen sein würden. Alle nur möglichen Staccato’s, Flageoletes bis in das höchste Violin-E am Steg, Doppelgriffe, Triller, alles in der höchsten Vollendung mit einer Reinheit, Schönheit und Vortrage, besonders in seine Elegie, wie der beste Sänger.10 Er erhielt vom Conservatorium ein sehr ehrenvolles Schreiben nebst der Ehren-Medaille11, ist übrigens ein ganz kleiner, schlichter Wiener, ohne alle Bildung und war früher Schreiner. – Was mich nun anbetrifft, so lebe ich jetzt ganz zufrieden, da ich einige gute Stunden habe welche mir per Monat 180 Frnk (84 fl. rhns.) eintragen, und mir somit ersparen, fremde Hülfe in Anspruch zu nehmen, Es ist wahr, Geld kann man nirgend so leicht und so viel verdienen wie hier, in Deutschland macht man die beste Musik, bezahlt aber am schlechtesten. Was meine ferneren Plane betrifft, überlasse ich mich dem Schiksal, und so viel muß ich gestehen, daß ich keine Lust hege, nach dem großen Paris, wo man eben so billig und besser lebt und mehr verdienen kann, mich in dem langweiligen, dumpfen Antwerpen wo man gar nichts Großes hört, und mit den Flammrändern(???) gähn[en???] muß niederzulassen. Ueberhaupt ermüdet mich das Stundengeben bei meinen Brustbeschwerden zu sehr, und ich würde vielleicht glücklicher sein, wenn ich einmal einen fixen Platz in Deutschland finden kann; vor der Hand bin ich jedoch zufrieden. In dem früher bestandenen Concert Valentino ist Ihre „Weihe der Töne“ oft gegeben worden12, wie man mir sagt. Ihre Violin-Duetten werden hier viel studirt, u. mehreremale wurde ich gefragt, ob Sie Paganini’s Etuden studirt hätten, weil Sie so schwer schrieben. – Ich habe mehrere Lieder componirt, jedoch noch keines veröffentlicht. – Für dießmal geehrter Herr Capellmeister schließe ich, und bitte, daß Sie das Langweilige meines Briefes meinem Vergnügen, Ihnen Alles mitzutheilen, zu Gute halten.
Indem ich mich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin achtungsvoll empfehle, zeichne ich mich als

Ihr
stets dankbarer Schüler
W. Happ.

Schindler, dieser bedeutende Intrigant war vorigen Winter hier.

Autor(en): Happ, Wilhelm
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Agout, Marie d'
Bärwolf, Johann Ludwig Wilhelm
Christ, Johann Jakob
Hindle, Johann
Rothschild, Betty von
Rothschild, James von
Schumann, August
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte: Paris
Erwähnte Institutionen: Concert Valentino <Paris>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1842070440

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Happ.

[1] „par bonté“ (frz.) = „freundlich“; offensichtlich Entsprechung zum deutschen „durch Güte“: dieser Brief wurde persönlich überbracht (vgl. Neuester und vollständigster deutscher Universal-Muster-Briefsteller, sowie österreichischer Privat-Geschäfts-Secretär, welcher alle im bürgerlichen Leben vorkommenden schriftlichen Aufsätze zu verfassen lehrt, Bd. 1, o.O. [1842], S. 124).

[2] Vgl. Castil-Blaze, „Théatre allemand de Paris“, in: France musicale 5 (1842), S. 140f.; „Paris, Juni“, in: Morgenblatt für gebildete Stände 17 (1842), S. 587f. und 591f., hier S. 588.

[3] Vgl. „Berichte aus Paris von H. Berlioz“, in: Neue Zeitschrift für Musik 16 (1842), S. 170ff., hier S. 170f.; Joachim Fels, „Aus Paris“, in: ebd., Sp. 182ff., hier Sp. 184f.; Castil-Blaze, „Théatre allemand“, in: France musicale 5 (1842), S. 168f.; ders., dass., in: ebd., S. 175; ders., dass., in: ebd., S. 197ff.; Henri Blanchard, „Théatre Royal Allemand“, in: Gazette musicale de Paris 9 (1842), S. 188f.; ders., dass., in: ebd., S. 202ff.

[4] Vgl. „[Hr. Christ]“, in: Allgemeine Theaterzeitung 35 (1842), S. 736.

[5] Vgl. „Rheinhessen“, in: Katholik 85 (1842), S. LXXI.

[6] Vgl. „[Liszt hat in einem Concert]“, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 8.

[7] Vgl. „[La triste situation]“, in: Gazette musicale de Paris 9 (1842), S. 269.

[8] Marie d’Agoult.

[9] Vgl. Henri Blanchard, „Thalberg“, in: Gazette musicale de Paris 9 (1842), S. 181.

[10] Vgl. Henri Blanchard, „MM. Charles Haas et Jean Hindle“, in: Gazette musicale de Paris 9 (1842), S. 150).

[11] Vgl. „[Der Kontrabassist Johann Hindle]“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 44 (1842), Sp. 598.

[12] Vgl. „Neuestes aus Paris“, in: Allgemeine Theaterzeitung 33 (1840), S. 1355.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.02.2022).