Autograf: Stanford University Music Library (US-STum), Sign. MLM 979E

Sr. Wohlgeb.
Herrn G.A. Henkel
Seminar-Lehrer
in
Fulda.

franco.1


Cassel den 8ten Juni
1842.

Hochgeehrtester Herr,

Ihre Kompositionen habe ich in meinen, von Geschäften freien Stunden, nach und nach durchgesehen und glaub, mir nun ein unpartheiisches Urtheil gebildet zu haben. Ich glaube Ihr Vertrauen nicht mehr ehren zu können, als wenn ich2 es Ihnen unverholen mittheile. Betrachte ich diese Sachen als Erzeugniße eines Dilettanten, der nur seine Nebenstunden dem Studium der Kunst gewidmet hat, so kann ich ihnen meine Anerkennung nicht versagen und muß den Fleiß und das musikalische Wissen des Verfassers bewundern. Sollen sie aber, als Werke eines Künstlers, der Öffentlichkeit übergeben werden, so tritt freilich ein andrer Maßstab der Beurtheilung ein. Dann halte ich sie noch nicht für so gelungen, daß ich zu deren Herausgabe rathen könnte. Besonders fehlt es ihnen an guter Form, so wohl was die Folge der musikalische Gedanken betrifft, als auch die Modulationen. Auch die rhytmischen Einschnitte im Chor der Priester sind oft noch nicht gut. Bald fehlt es ihnen an Symmetrie bald an dem Wechsel wodurch die Modulation der Taktbildung, besonders von schnellem Tempo, vermieden wird. Auch ist, namentlich in der Instrumentalkompositionen die Erfindung noch etwas dürftig, wie mir denn überhaupt die Vokalkompositionen höher zu stehen scheinen. Da aber aus allem Talent hervorleuchtet, so wäre es gut, wenn Sie Ihre nächsten Arbeiten unter Aufsicht eines guten Komponisten machen könnten, der Sie gleich beym Entwurf auf die Mängel aufmerksam machen könnte. In der Wahl der Ideen müßten Sie dann vor allem difficiler werden und namentlich bey Instrumentalkompositionen nur solche Themen wählen aus denen in Verlauf des Stücks sich auch etwas tüchtiges entwickeln läßt. Die3 Unreinheiten in der Harmonie und die Ungewandheit in der thematischen und contrapunktischen Bearbeitung des Themas, die sich in den bisherigen Arbeiten noch vorfinden, würden Sie dann auch bald bey dem guten Grund der gelegt ist, vermeiden lernen[.] Sollte Ihnen das Vorstehende im Wiederspruch mit dem was Ihnen Seyfried schrieb, zu stehen scheinen, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß er in seinem freundlichen Wohlwollen ein eigentliches Urtheil umgeht, welches sonst warscheinlich dem meinigen gleichlautend ausgefallen seyn würde. Schreiben Sie es überhaupt nur dem Interesse, welches ich an Ihren Arbeiten nehme, zu, daß ich so offen rede und ist es Ihne möglich meinen Rath zu befolgen, wo werden Ihnen Ihre Fortschritte bald die Nützlichkeit derselben darthun. Nur wünsche ich Ihnen dennoch Gelegenheit gute Musik gut executirt zu hören, weil dieß bey Begabten am schnellsten weiter fördert so wie Gelegenheit Ihre eigene Musik zu hören.
Da die Rücksendung Ihrer Kompositionen warscheinlich nicht eilt, so werde ich sie mit Frachtgelegenheit schicken, es sey denn, daß Sie anders darüber verfügten. Den Brief von Seyfried lege ich hier bey.
Mit vorzüglicher Hochachtung

Ew. Wohlgeb ergebenster
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Henkel, Georg Andreas
Erwähnte Personen: Seyfried, Ignaz von
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1842060814

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Henkel an Spohr, 08.04.1842. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Henkel, 18.05.1856.

[1] Über dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „CASSEL / 8 / 6 / 1842“. Unter dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „FULDA / 9 / 6 / [1842]“.

[2] „ich“ über der Zeile eingefügt.

[3] Hier ein Wort unleserlich gestrichen.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.06.2020).